Friday, May 3, 2024

„37 Sekunden“: Die beste Serie über #MeToo kommt aus Deutschland

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Wie lange hat es gedauert? Eine Schätzung, die dem menschlichen Verstand viel abverlangt. Bezogen auf Gewaltverbrechen erscheint der Anspruch besonders absurd. Dennoch wird Leonie (Paula Kober) von den Polizisten, die sie vernehmen, genau das gefragt. „37 Sekunden“, sagt sie.

Jene „37 Sekunden“ werden in der gleichnamigen ARD-Serie von Bettina Oberli ohne Umschweife auf den Bildschirm projiziert: Auf dem Geburtstagsfest des 55-jährigen Rockstars Carsten (Valentin Mirow) flirten er und die beste Freundin seiner Tochter Clara (Emily Cox) ein letztes Mal miteinander. Zuvor hatte er die monatelange Affäre beendet, doch in jener Nacht kommt es im Gartenhäuschen noch einmal zum Geschlechtsverkehr. Hinterher fühlt sie sich schlecht, zweifelt daran, das, was passiert ist, gewollt zu haben.

Liebende? Leonie (Paula Kober) und Carsten (Jens Albinus)

Liebende? Leonie (Paula Kober) und Carsten (Jens Albinus)
Quelle: ARD Degeto/Odeon Fiction GmbH/Barbara Bauriedl

Was die sechsteilige Serie, die um dieses Ereignis und seine moralische Bewertung kreist, besonders macht, ist, dass hier alle die Wahrheit sagen. Vor Gericht hören wir Leonies Schilderung des Tathergangs im Detail. Danach, wie Carsten sich an den Vorfall erinnert. Beide Berichte stimmen fast haargenau miteinander überein – und auch mit dem, was der Zuschauer zuvor mit eigenen Augen gesehen hat. Die Reihenfolge stimmt, die Zitate werden unverfälscht wiedergegeben, der Kontext korrekt erinnert. Und trotzdem kommt es zu einer Anklage und zu einem erbittert geführten Prozess, der eine ganze Familie auseinanderreißt.

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„And Just Like That“

Anders als es die Konventionen des Krimi- und Thriller-Genres nahelegen, wird hier keine Suche eines Täters betrieben und auch keine Aufdeckung eines Motivs. Im Raum steht eine Frage, die sich viel ursprünglicher mit den Möglichkeiten und Bedingungen geteilter Wahrnehmung beschäftigt: Selbst wenn wir alle von den gleichen Prämissen ausgehen – kann es sein, dass die eine Person das, was passiert ist, für leidenschaftlichen Sex hält und die andere für eine Vergewaltigung? Oder lügt sich bei solch einer Differenz einer der beiden Beteiligten in die eigene Tasche?

Dass die Serie im Rock-Milieu angesiedelt ist und von einer Affäre mit Alters-, Geschlechts- und Erfolgsunterschieden handelt, lässt Bezüge zur auf die Causa Rammstein verdichteten MeToo-Debatte herstellen. Leonie ist bedeutend jünger und weniger erfolgreich als ihr Idol Carsten, was eine Rolle für ihre Motivation spielen könnte, die Affäre einzugehen. Doch ist es auch relevant für ihre Motivation, den Vorfall am Beziehungs-Ende vor Gericht zu bringen?

Hin- und hergerissen ist vor allem Clara, die sich nicht nur entscheiden muss, ihrer besten Freundin oder ihrem geliebten Vater beizustehen. Als feministisch aufgeklärte Anwältin steht sie darüber hinaus vor der Wahl, entweder ihre weltanschaulichen Ideale zu verraten oder aber das Familienethos des bedingungslosen Zusammenhalts aufzugeben. Von allen Personen macht sie die verblüffendste Entwicklung durch, und Emily Cox, die brillant zwischen unscheinbar perfekter Tochter und durchtriebener Karrieristin changiert, nimmt man dabei jedes Stadium ab.

Deuten von Zeichen

Auch die Öffentlichkeit reagiert: Nach Leonies schockierend ehrlichem Instagram-Video protestieren Frauen auf den Straßen mit roten, über den Gerichtsplatz verstreuten Schuhen gegen häusliche Gewalt und deren Verharmlosung. Die Gegenseite agiert nicht minder geschickt: Carstens online veröffentlichte, mit Gitarrenmusik begleitete und ironisch schmachtende „Ode an die Cancel Culture“ kann mit Ryan Goslings eine verletzte Männlichkeit aufrufender Ballade „I’m just Ken“ mithalten. „Ihr nennt es Kultur, wie kann man nur“, singt Carsten. „Erst cancelt ihr die Liebe, dann cancelt der Verstand. Ihr cancelt die Gefühle, gecancelt sei das Land.“ Den verheerenden Auswirkungen des Übergriffs auf Leonies Alltag wird genauso Tribut gezollt wie denen der Anklage auf Carstens.

Weil Figurenpersonal und Ausgangslage so überschaubar sind, fragt man sich schnell, was denn jetzt in den kommenden Folgen noch passieren soll. Aber statt, wie es in Gegenwartsserien immer öfter geschieht, Wendepunkte im Stakkato aneinanderzureihen und neue Plot-Ebenen in alle Richtungen auszudehnen, bleibt das von Julia Penner und David Sandreuther stammende, grandiose Drehbuch konzentriert bei sich.

Waren beste Freundinnen: Clara (Emily Cox) und Leonie (Paula Kober)

Waren beste Freundinnen: Clara (Emily Cox) und Leonie (Paula Kober)
Quelle: ARD Degeto/Odeon Fiction GmbH/Barbara Bauriedl

Mit bestechender Präzision und ununterbrochener Spannung gelingt es ihm, die Bedeutungsebenen eines Verbrechens abzuschreiten, das seinen Status als solches erst durch das fehlende Einverständnis einer der beiden Beteiligten erhält. Wie laut muss ein „Nein“ geäußert werden? Reicht Flüstern? Und was, wenn der Mund „nein“ sagt, aber die Hände die gegenteilige Bewegung vollziehen? „37 Sekunden“ betreibt ein atemberaubendes Deuten von Zeichen, um die Liebe, die plötzlich in Gewalt umschlägt, in ihrer komplexen Ambiguität zu ergründen.

Neben dem originellen Kniff, dass keine Person ernsthaft täuscht, überzeugt „37 Sekunden“ auch durch eine zweite Setzung: ausnahmslos alle Figuren wollen nur das Beste, niemand ist hier wirklich böse, nicht einmal der rücksichtslos-schleimige Verteidiger, auch Carsten nicht. Und Clara? Sie geht sogar im beste-Freundinnen-Modus zu Leonies Konzert, nachdem diese den Vorfall mit Claras Vater bereits in einem Instagram-Video veröffentlicht hat. So gerne hat man sich. Carstens Frau Maren schmachtet ihren Mann auch dann noch treu-verliebt an, als dieser auf der Anklagebank seinen Seitensprung schildert.

Wo ist die Wahrheit? Sie ist nicht in dem, was wir sehen. Oder hören. Oder fühlen. Vielleicht kann sie nur dialogisch, im institutionellen Schutzraum des Gerichts, erfasst werden. So gut es eben geht.

Die Serie ist in der ARD-Mediathek zu sehen. Am 15. und 22. August laufen im Fernsehen um 22.50 Uhr jeweils drei Folgen.

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