Einen Menschen zum ersten Mal wirklich anzusehen, ist wie der Versuch, einen unbekannten Berg vom Tal aus zu begreifen: Das Auge scannt die Linien und Oberflächen, aber wie die Welt von ihm aus beschaffen ist, entzieht sich der Kenntnis. Sich befreunden zu wollen und die Sehnsucht nach einem neuen Horizont sind nicht nur metaphorisch miteinander verwandt. „Freundschaft ist ein Ort“, heißt es in „Acht Berge“ einmal.
So einen Moment des ersten Blicks fängt das belgische Regiepaar Felix van Groeningen und Charlotte Vandermeersch im starken ersten Kapitel seines zweieinhalbstündigen Berg- und Freundschafts-Epos ein: Pietro, ein elfjähriger Junge aus der Stadt, verbringt Mitte der Achtzigerjahre mit seinen Eltern die Ferien in einem fast entvölkerten Bergdorf im Aostatal.
Eines Tages sitzt der gleichaltrige Bruno mit am Tisch, „das letzte Kind im Dorf“, wie dieser sich in einer Mischung aus Melancholie und Stolz selbst nennen wird. Einsilbig gibt der fremde Junge der fremden Mutter Auskunft, dass sein Vater im Ausland arbeite und er seiner Tante beim Versorgen der Kühe helfe. Ruben Impens’ konzentrierte Kamera macht kein Aufheben um diese Szene, zeigt stattdessen einfach das Nebeneinandersitzen der Jungen, die einander nicht einmal ansehen. Als Pietros Mutter den kleinen Gast fragt: „Und wo ist deine Mamma?“, würgt der anstatt zu antworten noch einen Keks herunter. Erst da richtet Pietro seine hellen Augen von der Seite auf Bruno. Als hätte er in diesem Augenblick seinen Freund fürs Leben erkannt.
Im Unterschied zu einem anderen aktuellen Bergfilm, der in Italien spielt, Michelangelo Frammartinos vom Menschen und seinem Streben abstrahierenden „Il Buco – Ein Höhlengleichnis“, nimmt diese Adaption von Paolo Cognettis preisgekrönter Romanvorlage die alpine Landschaft vor allem in den Blick, um einen klassischen Entwicklungsroman zu bebildern. Seit der Romantik braucht es für so eine Geschichte die Freundschaft zweier gegensätzlicher Männer: Der eine schweift durch die Welt, der andere ist sesshaft; der eine intellektuell, der andere praktisch. Körper und Geist.
Update als Hipster
Ohne viele Worte, mehr durchs Machen verständigen sich die beiden. Dabei wird es schnell körperlich, sie kitzeln einander kichernd auf einer Wiese, springen in den Bergsee, streifen durch die Ruinen des Dorfes, zapfen einen Elektrozaun an, um Radio zu hören. Dieses rührend unpathetisch inszenierte Jungsidyll wird bald für Jahre abreißen: Pietros Eltern wollen Bruno mit nach Turin nehmen und aufs Gymnasium schicken, wie einen zweiten Sohn. Brunos Vater verhindert das. Auch Pietro ist dagegen: „Die Stadt wird ihn kaputt machen!“, prognostiziert er landlustig.
Das schmale 4:3-Bildformat weiß zunächst diese kindlich beschränkte Welt sehr gut einzufangen, in der alles genügt und zugleich auf Unermessliches verweist. Lupo Barbiero (Pietro) und Cristiano Sassella (Bruno) verkörpern noch diese flirrende Offenheit.
Jahre später kommt die Freundschaft als Update samt zweifachem Hipsterbart wie festgezurrt im neuen Jahrtausend an. Naturbursche Bruno, als Erwachsener gespielt von Alessandro Borghi, wird Maurer und Käser. Pietro (Luca Marinelli) hingegen sucht sich selbst: im fernen, ziemlich naheliegenden Nepal. Und wird Schriftsteller. Je mehr er sich um die Beschwörung des Essenziellen bemüht, desto mehr geht dem Film in aller achtsamen Langsamkeit die Puste aus. Die typisierten Erwachsenenversionen der Freunde lösen nicht ein, was zuvor als Möglichkeitsraum angelegt war.
Das wird umso deutlicher, als durch den Tod von Pietros Vater die übermächtigen Berge wieder in den Fokus der Jugendfreunde rücken: Ein Haus werden die beiden bauen, hoch oben in der Abgeschiedenheit, um ein Versprechen einzulösen, das Bruno dem alten Mann gegeben hat. Bruno war nämlich doch noch zu dessen Ersatzsohn geworden, Pietro hingegen hatte den Kontakt abgebrochen.
Die Archaik eines väterlichen Gesetzes liegt also explizit über diesem Quasi-Brüderpaar. Frauen bringen in so einem Garten Eden nur Probleme. Sie stellen nervige Fragen oder kommandieren herum, wie früher Brunos Tante, oder sie sind blass und kraftlos, wie Pietros Mutter. Dem Himmel nah, zelebrieren die Männer am Lagerfeuer ihre Verbindung. „Brokeback Mountain“ für trostbedürftige Heteros, ätzte eine Kritikerin ein bisschen zu Recht über diesen Film, der in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde.
Eine Frau wird natürlich trotzdem auftauchen, schon um die Männerfreundschaft auf die Probe zu stellen. Ansonsten ist Lara (Elisabetta Mazzullo) dem Film egal. Wie beim Viehhandel sichert sich Bruno beim Freund ab, ob zwischen den beiden etwas „läuft“. Der verneint, obwohl Lara deutlich Interesse an ihm zeigt. Schon gründet sie mit Bruno eine Familie. Klischees wie diese brachten dem Film den Ruf ein, er bediene altbackene patriarchalische Vorstellungen. Das 4:3-Bildformat kann der inhaltlichen Ausdünnung nun keine Dichte mehr geben, stattdessen verfügen Berge, Bärte, Film und Schweigen vornehmlich über Länge und Breite.
Einlullende Folksongs des schwedischen Singer-Songwriters Daniel Norgren untermalen knapp unterhalb der Kitschgrenze die behagliche Hüttenromantik. Es wirkt, als finde Felix van Groeningens Werk, das sich bisher vor allem der Tragikomik des Mannwerdens und Vaterseins widmete („The Broken Circle“, „Beautiful Boy“ oder „Die Beschissenheit der Dinge“), in den Bergen einen letztgültigen Zufluchtsort.
Doch in seiner Fixierung auf ein altertümliches, von manchen derzeit wieder herbeigewünschtes Männlichkeitskonzept liefert „Acht Berge“ ein doch eher braves Gegenstück zu jenem Kino, das die Berge und ihre Widerständigkeit gerade wiederentdeckt, um von radikaler Einsamkeit zu erzählen oder einem Füreinander, das sich den Normen der Welt entzieht, wie „Märzengrund“ von Adrian Goiginger oder „Drei Winter“ von Michael Koch.
Kaum ein Gipfel wird mühsam erklommen, wozu der Film nun wirklich genügend Zeit hätte, sondern im beschwingten Laufschritt überhüpft und dabei fliegend umkreist von einer Kameradrohne. Mann ist eigentlich immer schon oben. Was man von dort aus sehen kann, ist eine enge kleine Welt.