Tuesday, May 7, 2024

„Meistersinger“ & Co.: In der Oper gewesen. Gelacht

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Stunde Null. Zerstört. Doch die Trümmer ihrer Zivilisation bewahrt. In den aus den Achsen gekippten Ruinen einer kirchenartigen Fabrik haben sich die nach einem großen Krieg überlebenden Stadtbewohner eingerichtet. Halbdunkel. Hinten links wird Gottesdienst gefeiert, vorne rechts schon wieder geflirtet. In der Mitte, auf Parkettbodentrümmern, da bauen sich bürgerliche Honoratioren auf: Ein Verein alter Zausel, schwarz gekleidet, unfroh, einem überkommenen Regelwerk verhaftet; sich hinter einem beschädigten Bilderrahmen ausstellend in einer Art Laufstall.

Über fünf Stunden erzählt der französische Opernlustspielspezialist Laurent Pelly am Teatro Real in Madrid Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ als allzu menschliche Komödie. Emphatisch und liebevoll seine exzellent geführten Figuren in plastischem Licht zeigend zwischen den Papphäusern ihrer neuen Stadtstruktur (ohne Kirche!) und den als Bücherstapel bewahrten, mehr als Hälfte der Werkstatt des Meistersingers Hans Sachs einnehmenden Zivilisationsresten.

Die Wahl des Regisseurs scheint auch Konzeptfestlegung. Die im Trend liegt. Nach zwei politischen „Meistersingern“ in Bayreuth (Katharina Wagners brutal mit der braunen Festspielgeschichte aufräumenden von 2008 und der Folgeproduktion Barrie Koskys von 2017, die die Wagnerfamilie im Gebäude der Nürnberger Prozesse enden ließ) hat Katharina Wagner für die Neuinszenierung 2024 ebenfalls einen Musical-Spezialisten verpflichtet. Matthias Davids soll für „Comedy, tonight!“ sorgen. Dieses vielschichtige, historisch aufgeladene, schwer missbrauchte Stück als Johannistaglustspiel unterm Fliederbusch, geht das überhaupt?

Richard Wagner, wie immer, kam nicht aus dem Nirgendwo, auch für seine einzige Komödie gab es Vorlagen. Neben dem mittelalterlichen Hans Sachs eine Goethe-Dichtung, vor allem aber das von den Leipzigern – wie auch Mendelssohns „Lobgesang“ – zum 400. Geburtstag des Buchdrucks 1840 bestellte Feststück „Hans Sachs“ von Albert Lortzing. Darin gibt es schon Sachs samt Gesellen David (hier: Görg), auch den späteren Pogner (Meister Steffen) und seine Tochter Eva (Kunigunde) samt Amme Magdalene (Freundin Cordula), die den Stadtschreiber Beckmesser (Eoban Hesse) heiraten soll. Stolzing fehlt, der noch junge Sachs möchte selbst Kunigunde heiraten. Er bekommt sie nach einem getürkten Sängerstreit nur, weil Kaiser Maximilian als deus ex machina einreitet und ihm für seine poetischen Verdienste die reiche Bürgertochter zuspricht.

So hübsch wie biedermeierlich

Das ist so hübsch gemacht wie biedermeierlich harmlos. 2001 kam „Hans Sachs“ zuletzt in Osnabrück heraus, jetzt an der Musikalischen Komödie Leipzig, wo man angesichts des Lortzing-Doppeljubiläums 2026 (225. Geburts- und 175. Todestag) dessen Repertoire anhäufelt. Ein junges Produktionsteam um Rahel Thiel wollte sich nicht nur mit der Rarität zufriedengeben, wo man als „festes Band“ stets „Liebesglück und Heimatland“ beschwört. Diverse Gedichte, von Sachs-Originalen über Heine bis Brecht, sollen die Bedeutsamkeit aufwerten. Wagners 28 Jahre später uraufgeführte „Meistersinger“ werden zitiert. Nürnberg ist nur ein von Cupido mit Schulranzen verschlossener Kubus in Himmelblau, Neonwölkchen prangen darüber, das an Tischen sitzende, auf Podesten stehende Volk ist karnevalistisch typisiert. Senfgelb trägt der fiese Möpp Eoban, der Herrscher mit Krone tönt vom Rang. Ein kunterbuntes Nirgendwo, eine Dating-Show aus dem TV-Wunderland, Mittelalterverweigerung total. Aber nette Komödie, den ganzen Abend lang.

Da wird prächtig metiergerecht gesungen, der Chor legt sich temperamentvoll in die Kurve, aus dem Graben lässt es Tobias Engeli liebenswürdig sprudeln. Es spielopert halt so vor sich hin. Was fein wäre, gäbe es halt das ungleich gehaltvollere, philosophisch gewürzte, mit gehöriger Selbstschuld politisch vergewaltigte Wagner-Werk nicht.

Leigh Melros als Beckmesser und Gerald Finley als Hans Sachs in Wagners „Meistersinger“ in Madrid

Leigh Melros als Beckmesser und Gerald Finley als Hans Sachs in Wagners „Meistersinger“ in Madrid
Quelle: Javier del Real /Teatro Real

In Madrid ist man bereits beim melodienselig, zart und holzbläserfreundlich sich ausbreitenden Vorspiel, das Pablo Heras-Casado, der in Bayreuth gerade erfolgreich den „Parsifal“ betreute, mit gelassener Kompetenz auffächert, wieder hin und weg von so viel Komponistenkönnen. Und ja, das durchaus erkennbar in einer (deutschen?) Nachkriegszeit angesiedelte Geschehen, es funktioniert als die bisweilen umständlich ausgebreitete Komödie, die Wagner wollte. Es ist eben eine des Charakters, nicht des grellen Lachens. Sie ist verwurzelt in der orchestralen Erzählung, der Laurent Pelly mit seinem lyrisch besetzten, darstellerisch grandiosen Ensemble hochmusikalisch regiefolgt.

Gerald Finley ist mit kleiner, aber präsenter Stimme ein fast niedlich zweifelnder Sachs, dem man sofort die lebhaft-herbe Eva von Nicole Chevalier wünscht. Ein gar nicht so niederes Traumpaar sind der vollstimmige Sebastian Kohlhepp (David) und seine frische Lene (Anna Labkovskaja). Tomislav Muzek singt den Stolzing als im morgendlich leuchtenden Schein hervortretende, romantische Heldenprojektion mit zurückhaltendem Tenorglanz. Groteske Typen sind der senile Pogner am Krückstock (Jongmin Park) und die humpelnd sich krümmende, in ihrer Körpersprache tolle Beckmesser-Karikatur von Leight Melrose.

Finita la commedia!

Nachdem sich die Meistersinger im ersten Akt mit ihrer verknöcherten Singschul lächerlich gemacht haben, führt der zweite Akt das pralle Kommunenleben im Spielzeugdörfchen vor, das in brutaler Handgreiflichkeit zwischen David und Beckmesser endet. So kommt die an die Rampe gerückte Prügelfuge präzise durchgeschlagen und störungsfrei davon. Irritation bleibt.

Die Festwiese, musikalisch gluckerig, aber zurückhaltend, ist bescheidene Lustbarkeit mit Papprüstungen vor altem Alpenseepanorama. Wäre da nicht wieder dieser auftrumpfende Goldrahmen um die Meistersinger … Und in den letzten drei Minuten macht Pelly doch klar: Finita la commedia! Die berüchtigte, jovial begonnene Sachs-Ansprache von der „deutschen Kunst“ steigert sich eben doch zum demagogischen Fanal, des gefährlich mit dem rechten Arm wedelnden Schusters.

Kann unsere diskurswütige Zeit hier gar nicht mehr anders? Klar, selbst Richard Wagner sah sich als vorwärts stürmender Stolzing, aber auch der mitgehende und doch retardierende Sachs ist niemand anderes als sein Schöpfer in wechselnden Kunstauffassungsgestalten. Und Wagner verkündete: „So soll das Kunstwerk der Zukunft den Geist der freien Menschheit über alle Schranken der Nationalitäten hinaus umfassen; das nationale Wesen in ihm darf nur ein Schmuck, ein Reiz individueller Mannigfaltigkeit, nicht eine hemmende Schranke sein.“

Die Kunst an sich freilich soll sogar das „Deutsche Reich“ überdauern. Das hat sie im Fall des Heiligen römischen, des Kaiserreichs wie des „Dritten Reichs“ auch vollbracht. Und selbst nach Auschwitz ging es trotz des Adorno-Verdikts kreativ weiter. Und wie ist das in den Post-Auschwitz-„Meistersingern“ von heute?

„Ehret eure deutschen Meister“ wird in Madrid final geschmettert. Die verstaubten Altvorderen wollen nicht abtreten. Beckmesser ist längst von der Bühne verbannt, David und Lene sind in der Masse verschwunden. Sachs triumphiert, die Musik wird stählern. Das nicht mittuende Liebespaar findet weder Ausgang noch Ausweg. Und schließt irgendwie verzweiflungsvoll den alles offenlassenden Vorhang. Mal sehen, ob Bayreuth die anvisierte Komödie bis zum letzten Ton durchhält …

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