Monday, April 29, 2024

Salzburger Osterfestspiele: „Johannes-Passion“ – Aus dem Baumarkt des Bildungsbürgertums

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Sie hat alles richtig gemacht. Wie früher schon so oft. Es ist die 300. Wiederkehr der Uraufführung von Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion, die am Karfreitag 7. April 1724 einer erstaunten wie erschütterten Leipziger Bürgerschaft in der Nicolaikirche präsentiert wurde. Und Sasha Waltz hat sich genau dieses, nicht eben kleine, ohne Pause zweistündige, aber populäre Werk vorgenommen, um daraus ein Prestigetanzstück zu machen. So wie sie es am allererfolgreichsten schon 2004 mit dem von Luxemburg aus bis heute weltweit tourenden „Dido & Aeneas“ nach Henry Purcell vollbracht hat.

Ein Prestigeprojekt, das ihr Wiedererstarken endgültig verfestigen soll. Nach Misserfolgen und Burnout Mitte der Zehnerjahre – manifestiert mit sinfonischen Werken wie „In C“, „Beethoven 9“ oder „SYM-PHONIE MMXX“, dem Überbleibsel ihrer desaströsen Zeit als Berliner Staatballettdirektorin. Dafür hat sich die 61-Jährige prominenter Partner versichert.

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Matthäus vs. Johannes

Mit der so wendigen wie klangsatten und -sinnlichen Cappella Mediterranea unter ihrem abenteuerlustigen Chef Leonardo García Alarcón. Mit ebenso spielfreudigen, individuell timbrierten Sängern.

Dem famos greinenden Pilatus von Georg Nigl (schon 2014, bei ihrer letzten Oper „Orfeo ed Euridice“ dabei), Christian Immlers sonorem Jesus, dem schlichten Evangelisten Valerio Contaldo, der Sopranistin Sophie Junger, dem Altus Benno Schachtner und dem Tenor Mark Milhofer. Sie konnte sie auch tänzerisch einsetzen. Sie haben wie auch die beteiligten Chöre der koproduzierenden Opéra de Dijon und Namur an dieser bewegten wie tönenden sozialen Skulptur könnerisch ihren Spaß.

Bachs österlicher Passionserzählung, seiner christlichen Aussage hat Sasha Waltz wenig hinzuzufügen. Sie bebildert und beflügelt die grandiose, traumsicher packende Partitur mit ihren üblichen Arrangements, Möglichkeiten, Ideen. So wird ein höchst dekorativer, kontemplativer, wohlig anrührender Abend für den kulturafinen, bachgestreichelten Atheisten daraus. Geadelt durch die Uraufführung im ikonischen Raum der Salzburger Felsenreitschule.

Auf Tourneebetrieb angelegt

Trotz des grandios aufführungsentscheidenden Lichts von David Finn sieht man schnell, dass diese Premiere gar nicht für diese Breitwandfläche samt ihren ungenutzten Arkaden konzipiert ist. Die Osterfestspiele Salzburg, wo man seit vergangenem Jahr auch den Tanz inkludiert, haben sich vermutlich relativ spät und überhaupt nicht zum eigentlichen Italien-Schwerpunkt passend, das Recht der spektakulären ersten Nacht gesichert.

Überdeutlich ist das mittig frontal gestellte Werk für wechselnde Tourneeschauplätze gedacht. Der bei der Uraufführung anwesende Leipziger Bachfestchef Michael Maul hat es bereits für 2026 eingeplant.

Wo John Neumeier in seiner schon 1980 uraufgeführten Matthäus-Passion viel radikaler war, weil er wirklich die Leidensgeschichte Jesus als naiv gläubiger amerikanischer Katholik einfach nacherzählen wollte, da bleibt Sasha Waltz wolkiger und – woker. Narratives und Symbolisches wechselt sich ab, Konkretes und Affirmatives. Sie mischt dafür geschickt Choristen und Tanzkollektive (muss sie auch, es hat nur für elf Tänzer gelangt), lässt den Chor aus Dijon aus dem Publikum heraus singen.

»Johannes-Passion« – Tanz URAUFFÜHRUNG SASHA WALTZ JOHANN SEBASTIAN BACH »Johannes-Passion«, Johann Sebastian Bach, Sasha Waltz © Bernd Uhlig https://osterfestspiele.at/programm/2024/johannes-passion-urauffuehrung

»Johannes-Passion« – Tanz URAUFFÜHRUNG SASHA WALTZ JOHANN SEBASTIAN BACH »Johannes-Passion«, Johann Sebastian Bach, Sasha Waltz © Bernd Uhlig https://osterfestspiele.at/programm/2024/johannes-passion-urauffuehrung
Quelle: Bernd Uhlig

Längst ein Allgemeinplatz auch das: um die Zuschauer miteinzubeziehen, sie als wütender Judenmob nachdenklich zu stimmen. Das freilich führt im Eingangschor „Herr, unser Herrscher“ zu bestürzend matschiger Tonpampe; zum Glück nutzt sie sonst nur langsamere Choräle und kurze Turba-Chöre für dieses Raumklangexperimentieren, die ja auch schon Bach in seinen Leipziger Kirchen ausprobierte.

Bei Sasha Waltz sind die Menschen/Tänzer als Passionsdarsteller am Anfang mal wieder nackt. Sie nehmen an einem Abendmahlstisch mit Nähmaschinen Platz, verfertigen ihre weißen Spielkostüme. Ein erster Irritationsmoment ist dann auch das Anschwellen der Rattergeräusche zum Soundscape. Solches gibt es dann noch öfter, etwa, wenn vor dem zweiten Teil das aggressive Klopfen auf Holzblöcke das Einschlagen der Kreuzesnägel evoziert wird oder wenn beim Zerreißen des Vorhanges im Tempel jedes Licht ausgeht und im Dunkel weiter musiziert wird.

Überhaupt spielt diese Johannes-Passion weitgehend im Chiaroscuro an Caravaggio gemahnender, scharfgeschnittener Hell-Dunkel-Kontraste. Und auch ihrer Figurenballungen in den raffinierten Roben von Bernd Skodzig erinnern immer an hochbarocke Heiligenbilder wie an Grunewalds Isenheimer Altar. Lanzenstäbe verlängern die Linien, Dornengestrüpp raut sie auf. Einmal klumpen sich die wuselnden Menschen in drei leeren Rahmen als Altartriptychon; man kennt ähnliches schon aus „Körper“, Sasha Waltz’ Schaubühnen-Auftaktstück von 2000. Mittels Spiegel werden an der Decke verborgene Grunewald-Engel reproduziert.

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Jesus ist Frau und Mann, oft nackt und verletzlich, natürlich auch an die Schöpfung plus Vertreibung aus dem Paradies gemahnend. Geige und Gambe spielen – höchst dekorativ auf der Szene platziert – in den Ariosi ihre Soloparts, zwei Flöten und zwei Oboen wandern im Quartett. Und am Ende, soviel katholischer Kitsch im protestantischen Ritus muss sein, besteigen zu „Ach Herr, lass dein lieb Engelein“ eben jene Engelein eine Himmelsleiter aus dem Baumarkt.

An der Schaubühne hat es auf Dauer nicht geklappt. Mit den Opern war es nach dem Berliner „Tannhäuser“-Flop 2014 vorbei. Einen eigenen Haushaltsposten in Berlin hat sie für ihre längst wieder geschrumpfte Kompanie in 30 Jahren Existenz nie bekommen. Das fatale Engagement am Staatsballett endete, kaum hatte es begonnen, 2022 im Schrecken. Und auch international scheint Sasha Waltz als Gast-Choreografin, die einst für Lyon und St. Petersburg, Paris und Rom Kreationen schuf, nicht mehr gefragt. Ihr Mann Jochen Sandig, als gewiefter Networker maßgeblich an ihrem Erfolg beteiligt, scheidet als nicht sonderlich glückreicher Intendant der längst bedeutungslosen Ludwigsburger Schlossfestspiele in diesem Sommer aus.

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Also besinnt sich das auch langsam aufs Rentenalter zueilende Produzentenpaar aufs Kerngeschäft, das immer am besten mit berühmten Vokalwerken in tänzerischer Auffächerung funktionierte. Sandig konnte eben sogar die Verfilmung seines Longsellers „Human Requiem“ von 2012 nach dem Brahms Requiem als immersives Konzerterlebnis vorstellen.

Und Waltz kann mit Beethoven wie Bach erhebende Schauerlebnisse für das Bildungsbürgertum garantieren. Modern, aber klassisch, ein wenig rätselhaft, aber immer fassbar. Und es gibt noch genügend Festivals wie Spielorte mit Geld, wo diese Spektakel noch nie zu sehen waren, in ihrer bewährten Bauweise perfekt funktionieren; diese Salzburger Premiere war wieder ein Musterfall.

Aber man soll solche schön anzusehenden Fertigteile bitte nicht mit chorografischer Originalität einer vorgeblichen „Tanz-Ikone“ verwechseln.

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