Monday, April 29, 2024

Max Frisch Inszenierung: Das moralisierende Theater ist am Ende – nicht nur in Zürich

- Advertisement -
- Advertisement -

Neigt sich am Theater eine Intendanz dem Ende zu, muss man keine Rücksichten mehr nehmen. Da die Zeichen auf Trennung stehen, darf man endlich aussprechen, dass es nie Liebe war, sondern – ja, was eigentlich? Ein Missverständnis? In seiner letzten Inszenierung am Schauspielhaus Zürich wirft Nicolas Stemann den Zürchern vor, ein Publikum von zündelnden Biedermännern zu sein. Und Biederfrauen*, so müsste man in der Diktion des als „House of Woke“ verschrienen Schauspielhauses hinzufügen.

Zum Abschied haben die scheidenden Intendanten Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg „Biedermann und die Brandstifter“ auf den Spielplan gesetzt, den 1948 im Schauspielhaus Zürich uraufgeführten Klassiker von Max Frisch. Regie macht Stemann, von Blomberg die Dramaturgie. Der Zuschauersaal wird von Katrin Nottrodt bis auf die Bühne verlängert, unter die auf ihre Plätze strömenden Zuschauer mischen sich die Schauspieler, Feuerwehrleute in voller Montur und Frauen mit Witwenschleier.

Die Inszenierung lässt wenig Zweifel, dass die Zündler und Anheizer im Publikum selbst zu suchen und finden sind, in den eigenen Reihen. Der von Patrycia Ziólkowska gespielte Biedermann stellt eigenhändig den ersten Benzinkanister auf die Bühne. Sobald sich Niels Bormann als Dienstmädchen Anna die Haube vom Kopf reißt, erscheint der Brandstifter Schmitz, das Gleiche mit der Perücke bei Kay Kysela, der Biedermanns Frau Babette und den zweiten Brandstifter Eisenring in Doppelbesetzung verkörpert.

Großer Applaus für eine Publikumsbeschimpfung

Dass brave Bürger und Brandstifter ihre Rollen tauschen, erweist sich als weiterer wenig dezenter Hinweis der Regie ans Publikum, das Stück nicht so zu deuten wie damals bei der Uraufführung: Ein naiver Hausherr lässt Obdachlose ins Haus, die Feuer legen. Also besser niemanden reinlassen und allen misstrauen? Frisch fühlte sich derart falsch verstanden, dass er mit einem eilig hinzugefügten Nachspiel seine Parabel davor retten wollte, Brennstoff im Feuer einer „Ausschaffungsinitative“ avant la lettre zu sein.

Man kann Stemann und von Blomberg keineswegs vorwerfen (falls das überhaupt ein Vorwurf ist), dass sie nicht den Text von Frisch auf die Bühne gebracht hätten. Und man ahnt trotzdem, warum diese Inszenierung nichts für Jedermann (nicht zu verwechseln mit Biedermann) ist. Zu laut funkt es auf allen Kanälen „Vorsicht, Einfühlung! Achtung, Theater!“, so dass man sich zwar über den gegenwärtigen Stand künstlerischer Selbstdistanzierung wohlinformiert fühlt, allerdings auch das Drama auf Distanz bleibt.

Wer es mag, dass die auf der Bühne etablierten Zeichen überhöht oder unterlaufen, jedenfalls stets mit Kommentar oder Metaebene versehen werden, wird an diesem Abend verwöhnt. Alles hier ist Farce. Spielt denn niemand mehr ernst? Biedermann flippert wie ein Gummiball über die Bühne und wird als Figur auch deswegen kaum fassbar, weil statt psychologischer Verdrängungsnummer ein akrobatischer Gliederwirbel zu sehen ist. Man soll als Zuschauer zwar gemeint sein, nur fühlen soll man es offenbar nicht. Das könnte immerhin den großen Applaus für diese „Publikumsbeschimpfung“ erklären.

Theater zu Parkhäusern

Um bei all den schönen Einfällen den Überblick nicht zu verlieren, werden die wichtigen Aussagen in einer Schleife wiederholt: „Der die Verwandlungen scheut, mehr als das Unheil, was kann er tun, wider das Unheil?“ Was ist mit den ganzen Krisenverwaltern, die vorgeben, das Feuer einzudämmen („Brandmauer“) und doch selbst nach Kräften zündeln? So überzeugend es ist, das Verwirrspiel von Innen und Außen zu steigern, so kraftlos wirken in ihrer Selbstbezüglichkeit die eingesetzten ästhetischen Strategien.

Nachdem das Bühnenbild demontiert und dekonstruiert ist, flirren Videoeinspieler über die Bühne. Die Feuerwehrleute tragen nun Anzug und verkünden im Stile einer Fernsehreportage, dass das Theater künftig in einem neu gebauten Parkhaus für SUVs untergebracht wird. Kurz darauf sieht man, wie der alte Bau in die Luft fliegt. Nun dürfte man auch in der letzten Reihe merken, dass hier in selbstgerechter Pose die Zerstörung des Schauspielhauses durch eine verlogene Stadtgesellschaft angeprangert wird.

Zum Abschied gibt es noch einige Geschenke für die Politik, sehr dornige, aber keine Rosen. Unter anderem wird die sozialdemokratische Stadtpräsidentin Corine Mauch adressiert, die mit den Worten „Wir müssen, müssen Freunde sein!“ einem fiktiven Roger Köppel von der SVP die Hand gibt: Ein Fingerzeig, dass Mauch in den Augen der Intendanz vor den Rechten eingeknickt sei, als sie weder die Subventionen für das Theater erhöhen noch – in der Folge – die Verträge der Leitung verlängern wollte.

Lesen Sie auch
Demonstranten vor dem Reichstag, 21. Januar 2024

Heimeliges Wir-Gefühl

Man sagt Zürich nach, eine schwierige Theaterstadt zu sein, in der Kulturpolitik, Presse und Publikum regelmäßig ambitionierte und fortschrittliche Theaterleute vertreiben würden. Das ist nicht völlig von der Hand zu weisen – und doch hat auch die scheidende Leitung des Schauspielhauses an dem Mythos mitgestrickt, man sei an der vordersten Front eines Kulturkampfs gelandet, in dem die moralischen Botschaften der Diversitätskampagnen wichtiger seien als das künstlerische Überzeugen auf der Bühne.

Die Debatte um das Schauspielhaus wurde allerdings selten als Kontroverse über Glanz und Elend postmoderner Theaterästhetik geführt, sondern wuchs sich zu einem unfruchtbaren Gesinnungskampf aus, der vor allem der allseitigen Selbstversicherung diente. Als Stemann die letzte Spielzeit mit Bertolt Brechts „Leben des Galilei“ in einer betont spröden Inszenierung eröffnete, wirkte es wie eine Selbststilisierung zum Kämpfer des Fortschritts gegen die Kräfte der Reaktion (im Stück die Kirchenväter).

Das Programm in Zürich war jedoch breiter aufgestellt, als es der Ruf vermuten ließen. Auf dem Spielplan standen, entgegen anderslautenden Gerüchten, mehr Klassiker als in jedem beliebigen Theater. Allein Stemann brachte seinen gefeierten „Faust I & II“ mit, er inszenierte „Ödipus Tyrann“, Friedrich Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“ oder Elfriede Jelinek. Mit seinem „Herr der Ringe“-Spektakel „Riesenhaft in Mittelerde“, eingeladen zum Theatertreffen, wagte er sich an den Kanon der Popkultur.

Bei den zeitgenössischen Stoffen setzte das Schauspielhaus auf Popularität, nicht auf Nische: „Liebes Arschloch“ von Virginie Despentes oder „Blutstück“ von Kim de l‘Horizon, nach dem Buchpreisträger „Blutbuch“, kommen von den Bestseller-Listen. Dass ein solches Programm oft nicht wie gewünscht verfangen hat, lässt sich nicht allein mit Verweis auf die schlechte Presse oder das bornierte Publikum erklären. Stattdessen kann man von einer tiefgreifenden Kommunikationsstörung sprechen.

Neuerung nach Antidiskriminierungsleitfaden

Es wurde in Zürich versäumt, offen zu diskutieren, ob die kulturelle Neuerung strikt nach Antidiskriminierungsleitfaden auch ein größeres Publikum anzusprechen gedenkt – oder nur den bereits überzeugten Teil. Selbst ein eigenes einberufener Publikumsgipfel brachte keine Besserung. Auch nach den Corona-Einschränkungen, die Stemann mit seinen „Corona-Passionsspielen“ kommentierte, blieb die Auslastung – trotz großangelegtem „Audience Developement“ – deutlich hinter den Erwartungen zurück.

An der in Zürich gemachten Erfahrung kommt kein Theater in naher Zukunft vorbei: Nicht nur hat sich die moralisierende Kommunikation des Kulturbetriebs als pädagogische Diversitätsavantgarde erschöpft, durch ihren bevormundenden Ton und ihr signalhaftes Wesen ruft sie inzwischen bei einem Teil des Publikums heftige allergische Reaktionen hervor. Ein wirklichkeitszugewandtes Theater müsste diese Tatsache auf der Bühne verhandeln – statt nur mit beleidigtem Trotz und Schuldzuweisungen zu reagieren.

Beispielhaft, nicht nur wegen der schlecht gefüllten Reihen im Parkett (und das an einem Samstagabend nur wenige Vorstellungen nach der Premiere), ist „Blutstück“ von und mit Kim de l’Horizon. Was für die einen ein berührender und intimer Abend ist, der die Grenzen zwischen den Menschen einreißt, stellt sich für andere als unangenehm aufdringliches Mitmachtheater dar, das einen plumpen Romantizismus des ozeanischen Gefühls propagiert, in dem die prä- und postödipalen Subjekte untergehen.

An dieser Stelle finden Sie Inhalte von Drittanbietern
Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen.

Bis zur Unkenntlichkeit vermischen sich in „Blutstück“ maritime Privatmythologie, anale Gruppentherapie und hygienische Sozialpsychologie. Die Botschaft: Einfach mal den Finger aus dem Arsch nehmen und die ganze Scheiße rauslassen. Das kommt als queer und fortschrittlich daher, nur ist die Beschwörung eines ursprünglich grenzenlosen Kollektivkörpers mit Reinheitsfimmel eher dystopisch als utopisch zu nennen. Doch zu den eigenen Abgründen hat der plüschig-nette Abend keine reflexive Distanz.

Sucht man nach dem größeren Bild, so steht das Scheitern von Stemann und von Blomberg in Zürich für eine Theaterpostmoderne am Limit. Das subversive Spiel der Zeichen läuft im immer engeren Korsett der Moralisierung, die Mitwelt wird dafür immer unempfänglicher. Das gibt es nicht nur in Zürich und meist sogar noch unansehnlicher. Geht es nicht auch anders? Oder soll es immer so weitergehen? Die „Süddeutsche Zeitung“ sieht Stemann bereits als Nachfolger für den jüngst verstorbenen René Pollesch an der Berliner Volksbühne.

Weiterlesen…….

- Advertisement -
Latest news

Gaza-Krieg: Biden drängt Netanjahu zu weiteren Hilfen – Hamas äußert sich zu Geisel-Deal

US-Präsident Joe Biden hat vor erneuten Krisengesprächen den Ausbau der humanitären Hilfe im Gaza-Streifen gefordert. In einem Telefonat mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu...
- Advertisement -

Gaza-Krieg: Biden drängt Netanjahu zu weiteren Hilfen

US-Präsident Joe Biden hat vor erneuten Krisengesprächen den Ausbau der humanitären Hilfe im Gaza-Streifen gefordert. In einem Telefonat mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu...

Marilynne Robinson liest die Genesis neu: Gnade für den Brudermörder

Unsere heillose, erlösungsbedürftige Zeit legt es nahe, sich ratsuchend an die großen Texte der Überlieferung zu wenden, von welcher Herkunft auch immer. Philosophie, Literatur,...

Volleyball-Damen vom MTV Stuttgart feiern und gedenken gestorbenem Trainer

In einem silbernen Konfetti-Regen tanzten die Volleyballerinnen des Allianz MTV Stuttgart über das Feld. Etwas im Hintergrund applaudierte Trainer Konstantin Bitter, nachdem sich seine...
Related news

Gaza-Krieg: Biden drängt Netanjahu zu weiteren Hilfen – Hamas äußert sich zu Geisel-Deal

US-Präsident Joe Biden hat vor erneuten Krisengesprächen den Ausbau der humanitären Hilfe im Gaza-Streifen gefordert. In einem Telefonat mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu...

Gaza-Krieg: Biden drängt Netanjahu zu weiteren Hilfen

US-Präsident Joe Biden hat vor erneuten Krisengesprächen den Ausbau der humanitären Hilfe im Gaza-Streifen gefordert. In einem Telefonat mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu...

Marilynne Robinson liest die Genesis neu: Gnade für den Brudermörder

Unsere heillose, erlösungsbedürftige Zeit legt es nahe, sich ratsuchend an die großen Texte der Überlieferung zu wenden, von welcher Herkunft auch immer. Philosophie, Literatur,...

Volleyball-Damen vom MTV Stuttgart feiern und gedenken gestorbenem Trainer

In einem silbernen Konfetti-Regen tanzten die Volleyballerinnen des Allianz MTV Stuttgart über das Feld. Etwas im Hintergrund applaudierte Trainer Konstantin Bitter, nachdem sich seine...
- Advertisement -