Unsere heillose, erlösungsbedürftige Zeit legt es nahe, sich ratsuchend an die großen Texte der Überlieferung zu wenden, von welcher Herkunft auch immer. Philosophie, Literatur, Religion – im Kanon der Tradition muss doch, wenn nicht eine Lösung, so doch zumindest eine Erklärung für die Krisen der Gegenwart zu finden sein.
Aber ausgerechnet das Alte Testament hat da ein schlechtes Image – der alttestamentarische Gott, der selbst alles andere als zimperlich mit seinen ungehorsamen Geschöpfen umgeht und dem Motto „Wie du mir, so ich dir“ folgt, scheint doch eine recht autoritäre Vergeltungsstrategie zu vertreten – und mehr Teil des Problems als der Lösung zu sein.
Marilynne Robinson erzählt in ihren vielgerühmten Romanen immer wieder vom rätselhaften Walten Gottes in der Welt und von den inneren Kämpfen der Menschen, die barmherzig sein sollen und wollen und es doch immer ein kleines, entscheidendes Stück zu wenig sein können.
Die kleine fiktive Stadt Gilead in Iowa macht Robinson in ihren Büchern zur Bühne, auf der das große ewige Menschheitsdrama von Schuld, Vergebung, Verfehlung und Erlösung aufgeführt wird, eine unfromme, gefallene Welt, an der Gottes Gnade doch seltsam unverdrossen festhält. Robinson, geboren 1943, ist selbst Mitglied und Predigerin der kongregationalistischen Kirche (einer Variante des Calvinismus) und eine theologische Denkerin, akademisch vielfach geehrt.
In ihrem neuen Buch widmet sie sich dem Buch Genesis, das mit seinen dramatischen Geschichten vom Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies, Kain und Abel, Sintflut, Abraham und Isaak die Künstler und Literaten immer schon fasziniert hat. Ein Urbuch, nicht nur für das Judentum und das Christentum, sondern für die Kulturgeschichte schlechthin, das ebenso wie die Homerischen Epen oder die griechischen Tragödien mythische Konstellationen bereitstellt, in denen Menschen sich immer wieder selbst gedeutet haben.
Kain als Ahnherr
Robinson unterzieht das Buch Genesis einem Close Reading, stets mit dem Blick auf die ganze Heilsgeschichte des Volks Israel, das immer für die Menschheit insgesamt steht. Die oft als Beginn einer fatalen Kette der Gewalt verstandene Erzählung von Kain und Abel liest sie von ihrem Ausgang her: Der perfide Brudermord aus Neid – Gott nahm Abels Opfergabe an, die von Kain nicht – wird nicht nur nicht gerächt, sondern Kain wird von Gott sogar unter den besonderen Schutz gestellt, durch das sprichwörtliche Kainsmal, das eben kein Stigma bedeutet, sondern eher eine Auszeichnung ist. Und nicht nur das, Kain wird auch reich mit Nachkommen gesegnet, als Ahnherr hat er seine eigene Rolle im welthistorischen Fortschritt.
Robinson findet hier zwei untrennbar verbundene Attribute des hebräischen Gottes exemplarisch vorgeführt: Gerechtigkeit und Mitleid. Dass Gott Kain trotz seiner Tat nicht verstößt oder gar tötet, beweist seine Treue gegenüber den Menschen, auch und gerade dann, wenn sie fehlgehen.
In der Geschichte von Joseph und seinen Brüdern ist dann später eine ganz ähnliche Dynamik am Werk. Auch die Brüder werden für ihren verwerflichen Mordversuch nicht bestraft, sondern als Werkzeuge der Vorsehung betrachtet, die sie schließlich in den Zeiten der Hungersnot wieder in Ägypten mit Joseph zusammenführt. Für Robinson, die sich mit Theologie ebenso auskennt wie mit Narrationen, ist das ein Rahmen, der Gott als einen gnädigen und liebenden Gott zeigt, als treuen Bundesgenossen.
In der Geschichte Noahs und der Arche betont Robinson weniger die zornige Vernichtung fast der gesamten belebten Welt, als die darin enthaltene Möglichkeit zum Neuanfang mit dem geretteten Kernbestand. Im Vergleich mit dem babylonischen Vorbild, der Fluterzählung des Gilgamesch-Epos, geht es hier immer um den Menschen. Seine Autonomie behält Noah, der Doppelgänger Adams, auch nach dem großen Reset; die ursprüngliche Schöpfung wird also nicht negiert oder korrigiert. Der Mensch bleibt auch nach seinem moralischen Versagen frei – als Ebenbild Gottes, nicht als dessen Untertan.
Robinson schreibt als gläubige Christin, aber zugleich als leidenschaftliche und genaue Leserin, die in den biblischen Texten ihren Gott näher kennenlernen will. Diese Neugier verleiht dem Buch eine untergründige Energie und einen Grundton voll Zuversicht, ungewöhnlich genug für die Gegenwart, die sich nah am Abgrund wandeln sieht.
Die biblischen Geschichten sind keine Vergangenheit, sie sind nicht einmal wirklich abgeschlossen. Die Leser der Bibel sind selbst ein Teil ihrer Geschichte. Aus der Sicht Robinsons stehen wir weiter auf dem Prüfstand, ob wir uns dem Vertrauensvorschuss würdig erweisen, den dieser Gott dem Menschen wider alle Erfahrung immer wieder neu entgegenbringt.
Marilynne Robinson: „Reading Genesis“. Virago, 31 Euro.