Monday, April 29, 2024

Pädagogen im Kino: Der Club der guten Lehrer

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„Ich will“, sagt Sergio Juarez, „keine Kinder mehr verlieren.“ Davon hat er genug. Das hat ihn an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebracht. An das Verbrechen hat er sie verloren, an die Hoffnungslosigkeit, das Elend. In die sechste Klasse einer „Strafschule“ hat ihn das gebracht, die Jose-Urbina-Lopez-Grundschule im mexikanischen Matamoros. Am unschönen Ende des Meeres. Die Schule mit den schlechtesten Ergebnissen im ganzen Land. Gewissermaßen spezialisiert auf das Verlieren von Kindern.

Sergio Juarez gibt es wirklich. 2013 stand seine Geschichte im Magazin „Wired“. Eine Erfolgsgeschichte. Eigentlich eine Sensation. Denn Juarez, der eigenwillige, kauzige Pädagoge (den in Christopher Zallas Film der in Mexiko weltberühmte Komiker Eugenio Derbez spielt), hat nicht nur keins der Kinder von Matamoros verloren, er hat sie gewonnen. Fürs Leben, fürs Lernen, hat sie eine Familie von Wissbegierigen werden, sich selbst ihre Talente entdecken lassen.

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Christopher Zalla hat die Geschichte von Juarez gelesen. Und einen Film daraus gemacht. Um ein Haar wäre „Radical“ ein Märchenfilm in der Nachfolge vom „Club der toten Dichter“ geworden. Sergio verwandelt alle. Seinen dicken Direktor in einen mutigen pädagogischen Freigeist. Ein schüchternes Mädchen in eine Nachfolgerin von John Stuart Mill. Eine Müllsammlerin in eine angehende Astrophysikerin.

Überall geht es ums Schweben, ums Abheben in Zallas Film – Boote werden flott gemacht, die Schwerkraft widerlegt, Raketen gebaut, das physikalische Prinzip der Verdrängung erklärt. Manchmal entwickelt man eine beginnende Metaphernmüdigkeit.

„Señor Juarez und seine Klasse“ hätte Zallas Spielfilm auch heißen können. Sergio Juarez ist nämlich das jüngste Mitglied im Club der tollen Lehrer. Von Pädagogen, die gegen alle Chancen und gegen alle Regeln – im Kino – beweisen, dass man, eingepfercht im engen Korsett des Bildungssystems, gefährdet von den gesellschaftlichen Gegebenheiten und Schieflagen nicht zwangsläufig alle Hoffnung fahren lassen muss. Sergio Juarez ist der mexikanische Lehrer im Geiste von Dieter Bachmann.

Vertrauen und Träumen lehren

Auch den gibt es wirklich. Im Kino, in Maria Speths klugen, berührendem Dokumentarfilm „Herr Bachmann und seine Klasse“, unterrichtete er eine sechste Klasse im hessischen Hinterland, in Stadtallendorf. Eine Klasse mit Kindern aus zwölf Ländern. Und Herr Bachmann, ein Mann mit viel Neigung zu seltsamen Kopfbedeckungen und wenig Neigung zum sklavischen Nachvollzug eines Lehrplans, brachte seinen Kindern bei, zu träumen, sich selbst und den andern Kindern zu vertrauen. Dieter Bachmann gab keins seiner Kinder verloren.

Wie Ilkay Idiskut. Auch die gibt es wirklich. Sie unterrichtet in einer Brennpunktgrundschule im Wiener Problembezirk Favoriten. Die Regisseurin Ruth Beckermann hat sie und ihre Klasse drei Jahre lang begleitet. Wie sie – im Kampf gegen die Windmühlenflügel von Schulbehörde, Personalmangel, Familie und Gesellschaft – ihren Kindern die Kraft gibt zum Eigensinn, zum Entdecken ihrer eigenen Freiheiten und Energien.

Dieter Bachmanns Tür in dieser Freiheit in jedem Kind ist die Musik, Ilkay Idiskuts Tür ist der Tanz. Sergio Lopez‘ Tür ist die Bibliothek und das theatralische Umsetzen, das Dramatisieren, das Andersdenken trockener Lehrplaninhalte.

Eines der Geheimnisse des Sergio Juarez: Eine Gemenschaft bilden

Eines der Geheimnisse des Sergio Juarez: Eine Gemenschaft bilden
Quelle: Ascot Elite Entertainment

„Favoriten“ gewann auf der diesjährigen Berlinale den Friedensfilmpreis wie „Herr Bachmann und seine Klasse“ auf der Berlinale vor drei Jahren den Großen Preis der Jury. Und „Radical“ – Zallas Film über Sergio Juarez’ Jahr in der pädagogischen Niemandsbucht – den Publikumspreis des Sundance Filmfestivals.

Es sind keine Elendsberichte. Sie sind schon alle drei ziemlich ins Gelingen verliebt, ohne dass sie irgendwas, irgendwen glorifizieren. Und sie erzählen regionale Geschichten aus der Mitte eines globalen Desasters. Es tröstet nicht besonders viel, aber die Situation in Industrie- und Schwellenländern scheint sich zu gleichen wie ein Schulgebäude der Siebziger dem andern.

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In „Radical“ zum Beispiel hört man gelegentlich Schüsse im Hintergrund. Irgendwas explodiert in Matamoros. Sergios Schüler werden von Gangs bedroht, ein Massaker findet statt. Kinder müssen ihren und der Familie Lebensunterhalt durch Metallsammeln auf Müllhalden verdienen, von denen man ziemlich froh ist, dass man sie nicht riecht.

Die pädagogischen Zwangslagen sind aber in Mexiko die ziemlich exakt gleichen wie im Norden Hessens und im Süden Wiens. Lehrer gibt’s keine. Die Ausstattung ist erbärmlich. Die Schulbehörde ein Haufen verknöcherter Apparatschiks, die auf Disziplin beharrt wie Russlands Armee auf den Stechschritt bei Paraden.

Wer Dieter Bachmann sieht und Ilkay Idiskut und Sergio Juarez möchte trotzdem noch in hohem Alter Lehrer werden. Die Hohepriester des Lehrplans und der pädagogischen Besitzstandswahrung, die Schulbehörden, die Gewerkschaften, werden sie hassen, die neuen Sergios und Ilkays und Dieters. Die Kinder werden sie lieben. Um die geht es. Und nur um die. Keins von ihnen dürfen wir verlieren. Wir sind auf jedes einzelne angewiesen. Dafür muss jeder Eigensinn erlaubt sein.

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