Monday, April 29, 2024

Peter Eötvös ✝︎: Er war Stockhausens verrückter Ungar

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Er war ein später Blüher, aber geblüht hat er dann um so vehementer. Und mehr noch: Der Ungar Peter Eötvös, Komponist, Dirigent, Lehrer, er erwies sich immer stärker als ein polyglotter Weltbürger, dessen Werke überall gern gehört werden.

Denn seine Musik ist komplex und trotzdem nachvollziehbar, modern, aber eben auch klassisch – und sie steht vor allem in einem dramatischen Kontext. Das ließ ihn besonders in seinen reifen Jahren zu einem enorm gefragten Opernkomponisten werden, dessen Stücke in rascher Folge uraufgeführt, aber eben auch nachgespielt wurden.

Es begann, nach kaum beachteten Frühwerken, mit der 1998 in Lyon uraufgeführten, seither über Frankreich, Deutschland, Holland, Österreich und Ungarn bis nach England und in die USA exportierten „Tri Sestri“ nach Tschechow. Eine Literaturoper, die keine sein will – die die Vorlage nach Brechtscher Manier als klingend episches Theater durchdekliniert, sie dekonstruiert und neu zusammensetzt.

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Neuer Starregisseur

Gehalten von einer feinfühligen, vielschichtigen, mit immer neuen Farben und Impressionen aufwartenden, nie auftrumpfenden Partitur. In ihrer Beschränktheit und ihrem zerrissen klöppelnden, dann aber wieder sehnsuchtsvoll der Singstimme huldigenden Gestus entdeckt sie nie gehörten Reichtum – den Reiz des Atonalen, einer neuen Melodik der Disharmonie. Nach einem Masterplan aufgebaut wie der Bergsche „Wozzeck“ und doch ebenso unmittelbar, spannend und dramatisch sich entwickelnd.

Dabei hatte Peter Eötvös alles getan, um die notorische Geschichte von den Obristentöchtern Olga, Mascha und Irina, die nach Moskau wollen und doch auf ewig in der hassenswerten Provinz versauern, zu verfremden, ihr den Naturalismus auszutreiben. Von einem Deutschen (Librettist war Claus H. Henneberg) und einem Ungarn geschaffen, in Frankreich von einem japanischstämmigen Amerikaner (Kent Nagano) dirigiert und einem Japaner in Kabuki-Manier inszeniert.

Die russischen Chronistinnen tragischer Alltäglichkeit sind zu Countertenören mutiert. Die aus verschiedenen Perspektiven eine fast gleiche Handlung durchlaufenden Protagonisten stehen mitsamt den ihnen vorbehaltenen Instrumenten jeweils in einem personalen Dreiecksverhältnis. Was kopfig klingt, wird leuchtenden Tons immer schöner Theater. Der Pragmatiker Eötvös hat natürlich auch eine Alternativfassung mit Frauenstimmen sanktioniert.

Peter Eötvös’ letzte Werk

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Und so ging es danach Schlag auf Schlag, eine Oper folgte der anderen: 2002 brachte er den schwülen „Le Balcon“ nach Jean Genet in Aix-en-Provence heraus, 2004 in Paris die etwas zu abgeklärten „Angels in America“ nach dem gleichnamigen Schauspiel von Tony Kushner, 2008 „Lady Sarashina“ nach einer alten japanischen Vorlage neuerlich in Lyon, ebenfalls 2008 dann „Love And Other Demons“ nach dem García-Márquez-Roman in Glyndebourne. 2010 die „Tragödie des Teufels“ auf einen Text von Albert Ostermaier an der Bayerischen Staatsoper, woraus drei Jahre später in Wien „Paradise reloaded (Lilith)“ wurde.

2014 entwickelte sich in Frankfurt „Der goldene Drache“, der auf dem Drama von Roland Schimmelpfennig basiert, zum Riesenhit. „Senza sangue“ (2015), wofür erstmals Eötvös’ Frau Mari Mezei nach der gleichnamigen Novelle von Alessandro Baricco das Libretto schrieb, versteht sich als eine Erweiterung des Einakters „Herzog Blaubarts Burg“ seines Landsmannes Béla Bartók. Dann ging es erst 2021 mit dem fast zu schönen „Sleepless“ nach der Trilogie von Jon Fosse an der Berliner Staatsoper weiter. 2023 gab es schließlich als letzten Einakter den pessimistischen „Valuska“ nach László Krasznahorkai, erstmals auf Ungarisch, und in Budapest. Die eindrückliche Erstaufführung in deutscher Sprache war gerade am 3. Februar 2024 am Theater Regensburg.

Als allerletztes Werk kam am 25. Februar beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin Eötvös’ Harfenkonzert für Xavier de Maîstre zur deutschen Erstaufführung, ein opulent-extrovertiertes, auch zartfühlendes Werk, das die Harfe (wie auch ihren Solisten) generös als Primadonna auftreten lässt, so effektvoll wie substanzreich. Das konnte er freilich schon nicht mehr selbst dirigierten.

Schüler von Zoltán Kodály

Péter Eötvös wurde am 2. Januar 1944 in Odorheiu Secuiesc, einer ungarischen Enklave Siebenbürgens, geboren. Sein Vater war dort als Soldat stationiert, seine Mutter war Pianistin und Musikpädagogin. Über Dresden floh man nach Ungarn, mit 14 Jahren wurde er von Zoltán Kodály an der berühmten Liszt-Musikakademie in Budapest aufgenommen, wo er bis 1965 studierte. Ein Dirigierstipendium führte ihn an die Kölner Musikhochschule, wo er seinen Lebensfreund Karlheinz Stockhausen traf, für den er Klavier spielte und dessen enger Mitarbeiter er lange blieb.

Obwohl Eötvös erzählte: „Zwischen uns bestand eine sehr freundliche, offene Beziehung. Ich war der verrücke Ungar, der sich bei ihm beworben hat gleich am ersten Tag an der Hochschule. Er suchte nämlich Kopisten für ,Telemusik‘. Ich kannte seine Werke, das hat ihn beeindruckt und er hat mir vertraut. Ab der zweiten Oper ging dann freilich viel an mir vorbei, denn ich habe meine eigene Karriere verfolgt. Wir waren nicht mehr auf dem gleichen Bahnsteig, sondern auf parallelen Gleisen.“

Gleichzeitig war er aber auch am Studio für Elektronische Musik des WDR in Köln aktiv. 1979 berief ihn Pierre Boulez als musikalischer Leiter an dessen Ensemble intercontemporain, wo er bis 1991 wirkte. Im gleichen Jahr gründete er das Internationale Eötvös Institut für junge Dirigenten und Komponisten in Budapest. Ab 1992 lehrte er mit Unterbrechungen an der Karlsruher Musikhochschule, zwischendurch neuerlich in Köln. Doch je gefragter der Komponist Eötvös wurde, desto mehr beschränkte er dies dann später auf Meisterkurse und Seminare auf der ganzen Welt; besonders gerne beim Lucerne Festival.

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Gleichzeitig stand er als Dirigent bei führenden Klangkörpern wie dem Amsterdamer Concertgebouw-Orchester, den Berliner, Münchner und Wiener Philharmonikern am Pult, beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, dem Orchestre Philharmonique de Radio France, dem BBC Symphony Orchestra, Cleveland Orchestra und NHK-Sinfonieorchester. Er dirigierte international Oper, war vielfacher erster Gastdirigent und von 1994 bis 2004 Chef des Radio Kammerorchesters in Hilversum.

Damit war der stets freundliche, aufklärungsbereite, zugewandte Graukopf mit seinem singenden Deutsch eine der wenigen, früher häufigeren Doppelbegabungen als interpretierender Komponist. Er war offen, kein Dogmatiker, man wusste nie, was man von ihm als nächstes Klanggericht vorgesetzt bekam. Ohne jedes Dogma pflegte er einen legeren Polystilismus. Peter Eötvös war weltoffen, liebte aber auch, wie Fellini, die zirzensische, extraterrestrische Welt der Gaukler und Akrobaten.

Doch jetzt ist, nach einem kurzen heftigen Kampf gegen einen aggressiven Gehirnstumor, Peter Eötvös kaum zwei Monate nach seinem 80. Geburtstag gestorben. Der zweite tragische Verlust in kurzer Zeit nach Aribert Reimann für die hörbare Gegenwartsmusik. Es wird immer leerer unter der Zirkuskuppel.

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