Thursday, May 2, 2024

„20.000 Arten von Bienen“: „Mit dir ist doch alles in Ordnung“, sagt der Bruder

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Wie soll man das einem Kind erklären: Heilige und ihre Körperteile. Lucia von Syrakus zum Beispiel hantiert auf Darstellungen oft mit einem Teller, auf dem zwei Augäpfel liegen. „Schminkt sie sich?“ fragt ein Kind, dessen Blick beim Kirchenbesuch auf Lucia gefallen ist. Nein, sagt die Erwachsene: Lucia habe zur heiligen Agathe gebetet und sei für ihren Glauben bestraft worden. Seltsame Antwort. Glauben, so viel weiß das Kind inzwischen, ist das, „was dich weitermachen lässt“.

Die Verwandte erspart dem Nachwuchs und uns die Details: Lucia hat sich die eigenen Augen herausgerissen und ihrem Verlobten geschickt, woraufhin die Muttergottes ihr ein noch schöneres Paar geschenkt haben soll. Gestorben ist Lucia unter schrecklicher Folter, Augäpfel hin oder her.

Wie soll man das einem Erwachsenen erklären: ein achtjähriger Junge, der glaubt, ein Mädchen zu sein. Liegt es daran, wie die strenge Großmutter argwöhnt, dass die Mutter dem Kind keine „Grenzen setzt“? Aitor, so heißt das Kind (gespielt von Sofía Otero, die für diese Hauptrolle den Silbernen Bären gewann), hasst seinen Namen. Denn es fühlt sich seit frühester Kindheit als Mädchen. Die Mutter Ane (Patricia López Arnaiz) lässt das Kind gewähren, wenn es sein Haar wachsen lässt oder im Schwimmbad aufs Mädchenklo geht, gemäß dem Motto: „Es gibt kein Mädchen- und kein Jungs-Zeug“.

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Transgender

Glücklich ist das Kind damit nicht, es will ja nicht geschlechtsneutral, sondern ein Mädchen sein. Als Zwischenlösung beschließt Aitor, „Cocó“ zu heißen. Beim Verwandtschaftsbesuch im bergigen Baskenland, umgeben von Bienen, Flüssen und alten Bildern, gelangt Aitor/ Cocó schließlich zur Gewissheit, „Lucía“ zu heißen, Penis hin oder her.

In Estibaliz Urresola Solagurens erstem Spielfilm „20.000 Arten von Bienen“ geht es gleich auf mehreren Ebenen um Verwandlungen und Offenbarungen diesseits und jenseits von Grenzen, und es geht ums Geraderücken des Verdrehten und Falschen. Elegant öffnet der Film das Thema Transsexualität damit hin zu universellen Erfahrungen.

Was das Reden darüber für viele so schwierig macht, ist ja schon das Wort an sich: Weil das lateinische „sex“ das biologische Geschlecht meint, im Alltag aber auch den Geschlechtsverkehr, verschwimmt der Unterschied zwischen sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität. Irgendwas mit Sex: Wer Kinder mit dem Thema behelligt, so der weit verbreitete Kurzschluss, kann ja nur „Frühsexualisierung“ betreiben. Man muss es schon besser wissen wollen, um es besser zu wissen.

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Gegen seine Angst vor Bienen nimmt die Großtante einmal das um sich schlagende Kind in den Arm, stärkt ihm den Rücken. Während die Insekten sie umschwirren, souffliert die alte Frau: „Liebe Bienen, wir tun euch nichts“. Und alles beruhigt sich: das Kind, die Bienen.

Im derzeit sich verschärfenden transfeindlichen Klima wünscht man sich manchmal so eine Großtante, die „ganz ruuuuhig“ sagt und einfach mal die Fakten erklärt. Wie: „Trans“ als Vorsilbe mit der Bedeutung „hinüber“ ist vielem eingeschrieben, was Menschen tun, wünschen und fürchten, vom Tragen von Lasten bis zum Überschreiten der letzten Grenze vom Leben zum Tod. Letztlich sind wir alle ein bisschen trans.

Davon erzählt das Kino in Geschichten über transidente Menschen immer wieder, wie etwa in den Filmen Sébastien Lifshitz’ („Kleines Mädchen“, 2020 „Bambi“, 2013) oder Monika Treuts („Genderation“, 1999, und „Gendernauts“, 2021): Sie alle handeln von besonderen Menschen, richten den Blick aber auch auf die Erfahrung, dass der eigene Leib eine Zeitlang bewohnt wird und dabei immer wieder revidiert werden muss, weil sich das ältere vom jüngeren Selbst im Prozess des Älterwerdens ständig verabschiedet. Eine ganze Geschlechtsidentität hinter sich zu lassen, ist dann nur eine Extremform eines uns alle betreffenden Vorgangs. Und schließlich wird dieser Körper, welchen Geschlechts auch immer, endgültig zurückgelassen.

Baskisch kennt kein grammatisches Geschlecht

Die baskische Regisseurin Solaguren gelingt es, die Geschichte Aitors/ Lucías in solch größere Zusammenhänge einzubinden, ohne die fragile Leichtigkeit eines Kindheitssommers mit Bedeutungen zu überfrachten. Alles strömt in großer Selbstverständlichkeit ineinander.

Schon die Sprache: Gesprochen wird im Film Baskisch und Spanisch im Wechsel, manchmal switchen die Figuren mitten im familiären Gespräch. Eine alltägliche Fluidität umgibt diese Menschen also, die Mutter und ihre drei Kinder, die zu Großmutter und Großtante aufs Land fahren, wo sich die Alten mit Imkerei beschäftigen.

Solaguren erklärt, für sie sei die Verwendung des Baskischen auch deshalb so wichtig für den Film gewesen, weil die baskische Grammatik keine Geschlechtsunterschiede kenne und sie allein dadurch befreiendes Potenzial in sich trage. In der deutschen Synchronfassung fällt dieser Aspekt zwar unter den Tisch. Die unruhig-stabile Atmosphäre des ständigen Changierens entfaltet sich aber auch und vor allem entlang der zentralen filmischen Motive.

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Voller hergestellter und traktierter Körperbilder ist der Film. Das liegt schon daran, dass Ane Bildhauerin ist wie ihr verstorbener Vater: Für dessen „Sylphiden“ standen einst junge Mädchen Modell, und offenbar blieb es damals nicht beim Modellstehen – ein düsteres Familiengeheimnis.

In der Werkstatt ihres Vaters hantiert nun also Ane, die sich auf eine Dozentenstelle bewerben will, wie eine Alchemistin oder Ärztin. Ihre im Feuer erhitzten Messer zerteilen die bienenwächsernen Modelle menschlicher Figuren wie Skalpelle; dann lässt sie flüssiges Metall in die so geschaffene Hohlform gießen, und später wird sie mit wütender Gewalt das durch Ungeduld misslungene Werk aus der Form herausschlagen. Der „richtige“ Körper: ein Kampf.

Bienen und das, was sie erschaffen, verbinden die Sphären der Kunst, der Kirche (wo Cocó der heiligen Lucia eine Bienenwachskerze stiftet) und der Körper; sie begleiten im Volksglauben auch die Übergänge Geburt und Tod und lösen starre Dichotomien auf. Die Großtante (Ane Gabarain) heilt Dorfbewohner durch gezielte Bienenstiche vom Rheuma; sie ist es auch, die dem Kind die Sinnhaftigkeit von Varianz im Bienenstock erklärt, wo es Arbeiterinnen und Wächterinnen gibt, Drohnen und eine Königin, damit für alle gesorgt ist. Dem Kind auf dessen bange Frage, warum es „so“ sei, entgegnet sie: „Was meinst du damit? Gott hat uns perfekt gemacht“. Das Perfekte ist bei ihr keine starre Norm, sondern erkennt Unterschiedlichkeit an, und zwar mit großer Freundlichkeit.

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Erfreut ist das Kind ja selbst am wenigsten über seine „Geschlechtsdysphorie“, wie der medizinische Fachausdruck lautet, wenn sich jemand nicht mit dem Geschlecht identifiziert, das ihm bei der Geburt zugewiesen wurde. Es sind in Filmen über transidente Kinder oft die Geschwister, die den nötigen Rückhalt geben, und in dieser Geschwisterlichkeit, selbst wenn sie nur nebenbei miterzählt wird, liegt so etwas wie eine gesellschaftliche Utopie.

Einmal fragt Aitor/ Lucía den älteren Bruder, ob bei seiner Geburt etwas schiefgelaufen sei. „Was fragst du mich für Sachen“, antwortet der, „mit dir ist doch alles in Ordnung“. Daran glauben zu dürfen, dafür braucht der Mensch, das soziale Wesen, immer auch andere, und dieser Glaube hilft, weiterzumachen.

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