Saturday, May 18, 2024

Schwetzinger Festspiele: Wo die Öffentlich-Rechtlichen ihren Kulturauftrag wirklich ernst nehmen

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Schlafend liegt Titular-Rat Goljadkin flach, aber mit ausreichend Raum über sich. So bleibt das nicht. Bisweilen muss der Mann im beigen Anzug buckeln, um im Leben, aber auch mit niedrigen Decken klar zu kommen. Es rauscht im Fahrstuhl der Karriere nach oben und unten, mal steht, mal sitzt er.

Am Ende liegt er wieder, nachdem er von Wänden fast erdrückt wurde, auf einer Planke über dem Orchestergraben balancierte, jetzt keinen Lebensatem mehr hat. Ist er das Opfer einer Intrige oder seines eigenen Wahns? Egal, die noch geschlossenere Anstalt wartet.

Das Bühnenbild von Bettina Meyer scheint fast die halbe Inszenierungsmiete bei der jüngsten Uraufführung der Schwetzinger SWR Festspiele, der Dostojewski-Vertonung „Der Doppelgänger“ von Lucia Ronchetti. Denn dieser graue Setzkasten, dessen unterschiedliche, fluide sich erweiternde, verkleinernde, verflachende Fächer man von hinten zwischen elastischen Schwarzbändern betritt, er trägt mindestens ebenso zu klaustrophob kafkaesken Persönlichkeitsverlustatmosphäre bei wie die suggestiv fließende, sich verdichtende, immer dominanter werdende Klangkulisse, die sich die 61-jährige Italienerin, die auch die Musiksektion der Biennale di Venezia leitet, ausgedacht hat.

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Darin hat Ronchetti Routine. Diese Dostojewski-Tondramatisierung, welche die Bachmann-Preisträgerin Katja Petrowskaja flusenfrei aus dem gewunden mäandernden 260-Seiten-Frühwerk zu einem konzentrierten Parabel-Libretto in deutscher Sprache verschlankt hat, ist die jüngste von weit mehr als dreißig Opern, Aktionskonzerten, Radiospielen, Kammer- und Choropern, wie sie ihre selten über 75 Minuten reichenden Werke nennt, das keine anderen Genres kennt. Ihre Themenwahl reicht dabei von „Pinocchio“ und Kästners „Das fliegende Klassenzimmer“ bis Dante. Damit ist sie vor allem in Deutschland, aber auch Italien und Frankreich so erfolgreich wie gefragt.

Erfolgreich muss man auch die Auftragsgeschichte der Schwetzinger SWR Festspiele nennen, die seit 1952 – vom damaligen Südwestfunk Baden-Baden begründet – in den dortigen Sommerschlossräumlichkeiten der ehemaligen Fürsten der Kurpfalz, vor allem im klassizistischen Theater abgehalten werden. Das hat zwar nur 500 Sitzplätze, aber dank der Radioübertragungen reicht die tönende Botschaft sehr weit. Meist gibt es zwei szenische Produktionen: dem Geist des Ortes angemessene Barockopernraritäten und vor allem zeitgenössische Kammeropern.

Ort für progressive Konservative

Doch während draußen der Spargel und der Bärlauch sprießen, der gezirkelte Garten mit beschnittenen Buchenhecken, lila Flieder, dezent farbigen Bosquetten und frischem Grün aufwartet, wird die Harmonie des feudalen Refugiums nur wenig durch die Klänge von innen gestört, eigentlich nie verstört. In der langen Linie der Schwetzinger Opern haben meist die progressiv Konservativen den Ton angegeben, seit Werner Egks Gogol-Adaption „Der Revisor“ (1957), Henzes „Elegie für junge Liebende“ (1961) oder Wolfgang Fortners gerade in Frankfurt neuerlich gegebener Garcia-Lorca-Vertonung „In seinem Garten liebt Don Perlimplin Belisa“. Mit Werken von Aribert Reimann, Udo Zimmermann, Hans-Jürgen von Bose, Rolf Liebermann, Manfred Trojahn, Wolfgang Rihm folgt man einer gewissen Traditionslinie, in die sich nun auch Lucia Ronchetti bruchlos einfügt.

Alle Werke wurden in Zusammenarbeit mit anderen Theatern produziert und dadurch öfter gezeigt (als die zwei-, dreimal vor Ort), aktuell ist das Luzerner Theater Co-Produzent. Sehr viele wurden immer wieder nachgespielt. So hat der öffentlich-rechtliche Rundfunk hier einen Kulturauftrag wirklich ernstgenommen und ihn weitestmöglich verbreitet, ja den Opernkanon bereichert. Das älteste erhaltene Rangtheater überhaupt als Brutstätte des Neuen. Gerade aus der Bruchlinie, dem ästhetischen Kontrast, beziehen die Schwetzinger SWR-Festspiele ihren Reiz.

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Ein Reiz, der beim ganz aus der romantischen Literaturtradition sich speisenden „Doppelgänger“ sehr gediegen, aber spannend daherkommt. Neben dem Peter Schöne als groteskem Goljadki, der jeden nur möglichen Singsprechtonfall nutzt, gibt es den fast nüchternen Christian Tschelebjew als Double, den skurrilen Countertenor Zwi Emanuel Marial als Diener, den sonoren Robert Maszl als Doktor und den harschen Vladyslav Tlushch als Vorgesetzten.

Sie alle singen zudem wechselnde Minirollen und ein abstraktes Vokalquartett von hinten, das zusätzlich zur elektronischen Verfremdung der Stimmen die Phobien der Hauptfigur klangdingfest macht. Nur die einzige weibliche Partie, Olivia Stahn als ferne, eher projizierte, hinter Audioschlieren kaum ahnbare Geliebte Klara bleibt flau und zweidimensional.

Die zaristische Beamtensatire, eine Literaturspezialität dieser Zeit, nicht zuletzt bei Gogol, als Tragödie des modernen, vereinsamten, außer sich geratenen Menschen. Das ist nicht neu, wird aber hier feinsinnig wispernd, von den tickend obsessiven Ostinati des Beginns an, abwechslungsreich und farbensatt zur luftigen, von Folklorezitaten durchsetzten Klangkulisse. Die Tito Ceccherini am Pult des beweglichen SWR Symphonieorchester souverän ausmalt. Das ist zwar ein wenig überraschungslos, aber Schwetzingen at his best.

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