Angekündigt hatte Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) eine Diskussion „mit wichtigen zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren“ – das war am 25. Februar 2024. Zwei Monate später steht noch nicht einmal der „Kreis der Teilnehmenden“ für einen „Runden Tisch“ über die „Neukonzeption der Gedenkstättenkonzeption des Bundes und zu weiteren Fragen der Erinnerungskultur“ fest. Das geht aus den dürftigen rund hundert Wörtern hervor, mit denen die in der Ampel-Regierung für Kulturpolitik zuständige Roth drei präzise Fragen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion „beantwortet“ hat.
Der Entwurf für die „Neukonzeption“ der nationalen Gedenkstätten, der durch einen WELT-Artikel bekannt geworden ist, zielt auf eine Wende in der deutschen Erinnerungskultur. Zwar wird pflichtgemäß die Bedeutung der Verbrechen des NS- und des SED-Regimes für das Gedenken betont. Hinzutreten soll jedoch die „Erinnerung an das deutsche Kolonial-Unrechtssystem und dessen Aufarbeitung“. Beides bilde eine „notwendige neue erinnerungskulturelle Aufgabe“.
Allerdings ist erstens die Rolle Deutschlands im Gesamtzusammenhang des europäischen Kolonialismus zwar nicht marginal, aber doch eher klein. Auf jeden Fall liegt die Relevanz des Kolonialismus für die deutsche Erinnerungskultur weit unter der Zäsur des Nationalsozialismus und der 44-jährigen Diktatur in einem knappen Drittel Deutschlands.
Zweitens sind Vertreter der „postcolonial studies“ bisher vor allem durch eine mehr oder minder offene Relativierung des Holocaust sowie aktuell durch aktivistischen Antisemitismus aufgefallen. Ohnehin beruht ihre Weltsicht auf einem ziemlich schlichten, durch Floskeln kaschierten Zerrbild der vom 16. bis 20. Jahrhundert kolonialisierten Regionen. Demnach sei in Afrika und anderen Teilen des „Globalen Südens“ vor Ankunft der Europäer alles in Ordnung gewesen. Das ist eine Vorstellung von „edlen Wilden“, die mit der historischen Realität nichts gemein hat.
Das hätten Claudia Roth und ihre Mitarbeiter auch erfahren können, wenn sie vor dem Verfassen des Entwurfes mit Fachleuten der Erinnerungspolitik ins Gespräch gekommen wären. Doch ob es solchen Austausch überhaupt gegeben hat, ist zumindest fraglich. Denn die Kulturstaatsministerin weigert sich in der Antwort auf die Frage der CDU/CSU-Fraktion, die Namen jener „Persönlichkeiten aus den Bereichen Wissenschaft und Erinnerungskultur“ zu nennen, auf deren „Expertise“ sie „bei der Erstellung des Entwurfs“ zurückgegriffen haben will: „Diesen Persönlichkeiten wurde im Rahmen der Gespräche Vertraulichkeit zugesichert.“
Alle Institutionen kritisieren Claudia Roth
Dabei wäre sehr spannend, mit wem die beim Bundeskanzleramt angedockte Abteilung für Kultur und Medien, gewöhnlich bekannt als „BKM“, überhaupt geredet hat. Denn sämtliche mit dem Thema Erinnerungspolitik befasste Verbände haben das 43 Seiten lange Papier scharf verurteilt. Ihre „Stellungnahme zum Entwurf des Rahmenkonzepts Erinnerungskultur“ vom 3. April, die WELT vorliegt, ist eine kaum kaschierte Ohrfeige für Roth. Die Unterzeichner, darunter die Arbeitsgemeinschaften der KZ-Gedenkstätten in Deutschland und der Gedenkstätten zur Diktatur in SBZ und DDR, der Verband der Gedenkstätten in Deutschland und andere, repräsentieren gemeinsam praktisch alle, weit mehr als 350 vergangenheitspolitischen Institutionen der Bundesrepublik.
Und sie lehnen das Konzept rundheraus ab. Dessen „Mängel“ seien „so gravierend“, dass der „vorliegende Entwurf nicht weiterverfolgt werden sollte“. Es fehlten „klare Leitlinien“, es gäbe „Mängel im Aufbau, Unbestimmtheiten in der Zielsetzung, ja sogar einen gewissen Charakter des bloß Appellativen“. Die „im Entwurf skizzierten Themen“ wirkten „beliebig“. Da viele dieser Einrichtungen direkt oder indirekt von der Förderung durch Roths Abteilung abhängig sind, ist solche Klarheit bemerkenswert.
„Die Erarbeitung des Rahmenkonzepts erfolgte ganz offensichtlich ohne übliche Gesprächsformate und fachliche Expertise“, stellt Christiane Schenderlein, in der CDU/CSU-Fraktion Sprecherin für die Themen Kultur und Medien, gegenüber WELT fest: „Der von Claudia Roth geplante Systembruch in der Erinnerungskultur hat keinen breit getragenen Konsens.“
Entweder wurden die Vertreter der einschlägigen Institutionen gar nicht in die Überlegungen zu einem überarbeiteten Gedenkstättenkonzept einbezogen. Oder man hat zwar Gespräche geführt, jedoch unter Vorspiegelung falscher Tatsachen. Darauf lässt ein weiterer Satz im Schreiben von Claudia Roth an Christiane Schenderlein schließen: „Auch fanden die Gespräche nicht immer dezidiert unter der Thematik ,Rahmenkonzept Erinnerungskultur‘ statt.“
Zwei Leiter von wichtigen, überwiegend vom Bund bezahlten geschichtspolitischen Institutionen bestätigten das WELT unabhängig voneinander. Beide wurden am Rande regulärer Gespräche wie Stiftungsratssitzungen oder ähnlichem von BKM-Vertretern zu Themen befragt, die dann in den auf den 1. Februar 2024 datierten Entwurf eingeflossen sind.
Schenderlein, die selbst promovierte Politikwissenschaftlerin ist und seit 2021 für Sachsen im Bundestag sitzt, wundert sich: „In der Antwort wird quasi auf ,Pseudo-Gespräche‘ verwiesen, bewusst ohne dezidierten Bezug zum Rahmenkonzept. Das offenbart entweder eine ungeahnte Überheblichkeit oder einen ideologisch motivierten Alleingang von oben.“ Der „Aufschrei in der Erinnerungskulturszene“ sei daher nicht „nicht verwunderlich, dafür beispiellos“, sagt Schenderlein: „Es braucht einen Neustart im gewohnten Verfahren und unter Einbindung aller betroffenen Einrichtungen und auch des Deutschen Bundestages.“