Wednesday, May 8, 2024

Ein besonderes Bundesland: Die Macht des Zufalls über die Thüringer Politik

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Es gehört zu den Unsitten unserer Zeit, ein knappes Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung noch immer von den „neuen Ländern“ zu sprechen und zu schreiben. Damit ist gewöhnlich „der Osten“ gemeint, den es natürlich genauso wenig gibt wie „den Westen“. Die Republik setzt sich aus 16 Bundesländern zusammen, darunter in der Mitte Thüringen; ein Land übrigens, dessen Wurzeln tiefer reichen als die nach dem Krieg zusammengewürfelten Konglomerate Nordrhein-Westfalen oder Schleswig-Holstein.

Mit solchen Klarstellungen beginnt das neue Buch des Thüringer Journalisten Martin Debes, der die Entwicklungen seiner Heimat in der Landeshauptstadt Erfurt seit vielen Jahren kenntnisreich beschreibt. Vor drei Jahren hat er bereits die Ministerpräsidentenwahl des FDP-Mannes Thomas Kemmerich, der mithilfe der AfD kurzzeitig ins Amt kam, beleuchtet. Sein neues Werk „Deutschland der Extreme. Wie Thüringen die Demokratie herausfordert“ ist als Begleittext zur Landtagswahl am 1. September angelegt. Das Buch schildert die Vorgeschichte zum denkbaren Schlamassel.

Analyse aus dem Februar 2020
Thüringer Volte: Thomas Kemmerich (FDP) lässt sich mit den Stimmen von Björn Höckes AfD-Fraktion ins Regierungsamt wählen

Umwälzung in Thüringen

Dabei muss Debes den Gegenstand seiner Betrachtungen gar nicht künstlich überhöhen. Es stimmt ja: Nirgendwo ballt sich Glanz und Elend der deutschen Geschichte so sehr wie in Thüringen. Vom Goethehaus in Weimar zum ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald fährt man über die Blutstraße knapp zwölf Kilometer.

Diese Antipoden allein – und von diesen findet man viele in der thüringischen Geschichte – erklären aber nicht, warum Thüringen heute wieder im Zentrum des politischen Interesses steht. Es gibt einen linken Ministerpräsidenten, seit zehn Jahren im Amt, ein Unikat.

Eine Minderheitsregierung, auch das einmalig. Und es gibt einen Rechtsextremisten namens Björn Höcke, der nicht nur im Freistaat Thüringen immer wirkungsmächtiger geworden ist. Es ist nicht wahrscheinlich, aber möglich, dass der Thüringer AfD-Chef im Herbst sogar Ministerpräsident werden könnte.

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Debes geht der Frage nach, wie Thüringen zum Sonderfall der Republik werden konnte, zum Testfall für die bundesdeutsche Demokratie. Mit ein paar flotten Talkshow-Sprüchen über „den Osten“ und die postsozialistische Entwicklung der „neuen Länder“ ist das nicht getan.

Es gab und gibt in der Politik, und das arbeitet Debes immer wieder heraus, neben soziokulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Transmissionsriemen auch individuelle, persönliche Faktoren, die einen großen Unterschied machen. Thüringen, das ist auch die Herrschaft des Zufalls über die Politik; mindestens aber schildert Debes, wie sich Zufälle so breit machen können, dass das Unerwartete eintritt.

Ein tödlicher Skiunfall und die CDU-Schockstarre

Einer dieser Zufälle heißt Bodo Ramelow, der im Februar 1990 als Sekretär der Gewerkschaft Handel-Banken-Versicherungen nach Erfurt geschickt wurde. Das ist bekannt.

Weniger bekannt ist Ramelows Vorgeschichte in Marburg; einer Universitätsstadt, in der die von der SED alimentierte Deutsche Kommunistische Partei die linke Szene dominierte. An der DKP kam man in diesem westdeutschen akademischen, intellektuellen Milieu nicht vorbei. Ramelow war zwar nie Mitglied der kommunistischen Partei, aber er stand der DKP als junger Mann wohl näher als der CDU, um es vorsichtig zu formulieren.

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Bodo Ramelow

Bodo Ramelow

Dass die PDS, später die Linke, in Thüringen bereits 1999 die SPD überholen und 20 Jahre später sogar zur stärksten Partei werden konnte, hat sehr viel mit diesem Gewerkschafter zu tun, der sich und seine Überzeugungen in Thüringen im Grunde noch einmal neu erfand. Ramelows Vita belegt den Sonderfall Thüringen: Eine Linke minus Bodo Ramelow ist heute politisch kaum noch relevant; siehe Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg. Und dort, wo sie noch mitregiert – Bremen und Mecklenburg-Vorpommern – haben Ramelows Kuriere aus Thüringen durchaus mitgeholfen.

Deshalb kann man das Buch über dieses kleine Land in Deutschlands Mitte auch als „Was wäre wenn“-Roman lesen. Was wäre denn gewesen, wenn Helmut Kohl 1992 in Bonn dem Wunsch der Thüringer CDU nachgegeben hätte, nicht Bernhard Vogel, sondern seine Parteifeindin Rita Süßmuth zur neuen Ministerpräsidentin zu machen? Ein Wechsel war nötig geworden, weil der erste Thüringer Ministerpräsident Josef Duchač (CDU) nach Stasi-Vorwürfen zurücktreten musste.

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Und wäre die Thüringer CDU nach dem Abgang von Bernhard Vogel auch in Flügelkämpfen so zerfleddert worden, wenn sich Ministerpräsident Dieter Althaus am Neujahrstag 2009 dagegen entschieden hätte, sich ein Paar Skier anzuschnallen und auf die Piste der österreichischen Riesneralm zu gehen? Es kam zu einem schweren Fahrfehler, Althaus stieß mit einer slowakischen Touristin zusammen, die an ihren schweren Verletzungen starb.

März 2009: Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) gibt nach der Rückkehr aus der Reha-Klinik ein Interview

März 2009: Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) gibt nach der Rückkehr aus der Reha-Klinik ein Interview
Quelle: picture-alliance/ dpa

Der Ministerpräsident, ebenfalls verletzt, wurde wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe verurteilt. Die erfolgsverwöhnte Thüringer Union geriet in einen Zustand der Schockstarre, verlor nach der Landtagswahl 2009 ihre absolute Mehrheit, Althaus trat zurück.

Seine Nachfolgerin Christine Lieberknecht, die Debes wie alle im Buch auftretenden Akteure so gut kennt, wie man Politiker als Journalist eben kennen kann, strauchelte schon beim ersten Wahlgang im Landtag. Hier begann die christdemokratische Götterdämmerung, offenbar hatten ihr mehrere CDU-Abgeordnete die Stimme verweigert.

Am Ende wurde sie von Bodo Ramelow gerettet, weil der im dritten Wahlgang gegen sie antrat – und sich die Reihen der CDU wieder schlossen. Diesen Dienst hat Lieberknecht dem Linken übrigens nie vergessen, es war der Beginn einer sonderbaren, aber engen Freundschaft, wie es sie wohl nur in Thüringen geben kann.

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Auch diese von Debes beschriebene Episode belegt, wie die politische Klasse Thüringens sich immer wieder selbst im Weg stand; warum Revanche dort kein Gericht ist, dass man kalt serviert, sondern einem der heiß angerührte Brei mitunter auf die eigene Hose kleckert. Den vorläufigen Höhepunkt dieser kurzsichtigen Methodik bildete dann im Februar 2020 die Wahl Kemmerichs „von Höckes Gnaden“, wie Debes es formuliert.

All das, was der Autor in seinem historischen Abriss zusammengetragen hat, schreit eigentlich nach einer Drehbuchvariante, nach einem TV-Politdrama, einer Mischung aus „Borgen“ und „House of Cards“, Arbeitstitel: „Game of Thüringen“. Solange es diese Serie nicht gibt, kann man mit dem Buch vorliebnehmen, dass im Übrigen auch eine lebendige Miniaturerzählung der deutschen Vereinigungsgeschichte geworden ist.

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