Vielleicht fangen wir dann doch wieder mit Tolstoi an. Hatten wir uns eigentlich verboten. Weil einem angesichts von Familiendramen in Film und Fernsehen Tolstois erster Satz der „Anna Karenina“ – der von den glücklichen und unglücklichen Familien – ungefähr so sicher überfällt wie das Aufstoßen nach übermäßigem Sprudelwassergenuss.
Im Fall von „Hochamt für Toni“, dem neuen „Tatort“ aus Franken, muss der totgerittene Satz aber leider wieder hervorgeklaubt werden. Weil der „Tatort“ Tolstoi längst vom Kopf auf die Füße gestellt hat. Im „Tatort“ ist es nämlich mitnichten so, dass alle glücklichen Familien einander gleichen, während jede unglückliche Familie auf ihre eigene Weise unglücklich ist.
Im „Tatort“ gleichen sich die bürgerlichen Familien – jedenfalls immer dann, wenn sie es zu quasi feudalistischem Reichtum gebracht haben – in ihrem Unglück wie eine Industriellenvilla der anderen (glückliche Familien gibt es, aber das zu untersuchen würde hier zu weit führen, sowieso in keinem „Tatort“). Man könnte diese Tolstoi-Umkehrung auch als „Derrick“-Phänomen bezeichnen.
Die Hentschels im „Hochamt“ sind so eine Familie. Man könnte schwören, dass man ihnen irgendwann in den frühen Achtzigern in Bogenhausen schon mal begegnet ist und Harry vor der Tür ihres Anwesens den Wagen holte für Kommissar Stefan Derrick. Und dass Bernd Lange, gewöhnlich ein Großmeister des deutschen Drehbuchs, für die Geschichte dieser angehenden Erbengemeinschaft in ihrem Downton Abbey für mittelständische oberpfälzer Kleinmagnaten in einer Kühltruhe der Bavaria eine apokryphe Familienaufstellung gefunden und anschließend mikrowelliert hat.
Widerstand bis in den Tod
Der Vater – ein patriarchaler Protofaschist, in dessen Nähe selbst Kondensmilch spontan schlecht wird, ist als Autozulieferer zum größten Arbeitgeber der Gegend aufgestiegen. Die Söhne – burschenschaftgestählte Karrieristen, verkommene Fantasten. Die Mutter – psychoanalytisch sofort durchschaubar an den Rollstuhl gefesselt – flüchtet sich vor der Eiseskälte, der Entropie der Gefühle in einen idyllischen Wintergarten und malt. Die Tochter, die lebt, macht sich klein und reitet, aber nicht weit hinaus. Die Tochter, die starb, hat Widerstand geleistet bis zum angeblich selbstgewählten Tod.
Es ist das ziemlich große Wunder dieses Films, dass er trotz dieser Bleigewichte von Klischees an den Beinen ins Schweben kommt. Dass er schön ist und melancholisch macht, und dass man ihn vor allem deswegen nicht so schnell loswird, weil man sich über die ziemlich billige Konstruktion in seinem Innern derart geärgert hat.
Der Fall ist folgender: Jahre her, da war Felix Voss, der philosophischste aller „Tatort“-Kommissare, in Berlin mal mit der federleichten Antonia „Toni“ Hentschel und dem nicht ganz so leichten Marcus Borchert ein Dreigestirn in „Jules et Jim“-scher Manier. Man sieht sie in sepiagoldenen Flashbacks durch einen Sommer des Vergnügens tanzen, in Seen baden, im Sand wenig subtil Kafkas „Verschollenen“ lesen.
Wie hätte es werden können, wenn sie einander erkannt hätten, die Toni und der Felix, wenn sie sich geöffnet hätten? Was für ein Leben hätten sie geführt, wären sie jetzt, wo sie sind, wäre Toni vielleicht sogar noch da?
Wenn sich „Hochamt für Toni“ nicht gerade mit der Mördersuche beschäftigt (was er in ganz klassischer, derrickesker Weise tut) und dem Vorführen einer mustergültig im Archaischen steckengebliebenen Familie (was er in ebensolcher Weise tut) ist Michael Krummenachers „Tatort“-Regie-Debüt der Versuch einer Philosophie verpasster Seinsweisen, vergrabener Lebensentwürfe, vergessener Gefühle.
Jetzt hätten wir beinahe den Mord vergessen. Also. Der Marcus kontaktiert den Felix nach Jahren wieder. Er soll doch rüberkommen aus Franken in die Oberpfalz, in Tonis Heimatort, in ihre Heimatkirche. Da ist er jetzt Pfarrer und die Hentschels sind, was früher die Grafen waren.
Eine Predigt will er halten, etwas offenbaren, etwas Schreckliches, etwas mit Toni. Eine Leinwand hat er aufgebaut. Felix ist da. Dann ist der Marcus tot. Erstochen in der Sakristei. Raubmord meint der Provinzbulle. Glaubt Felix so wenig wie den angeblichen Selbstmord von Toni.
Irgendwas stimmt nicht in der Oberpfalz, wo Felix gar nicht zuständig ist. Was ihn, diesen moralischen Kollerkopf, natürlich nicht hindert, die ganze Gegend aufzumischen mit Fragen, die da jeder sofort unter den Teppich zu kehren versucht, unter dem es schon ziemlich voll ist.
Die Kollegin Ringelhahn (die unvergleichliche Dagmar Manzel) daheim in Nürnberg, die Felix Mutter, Schwester, Freundin in einem ist, hat (wenn sie sie nicht gerade über ihrem Kopf zusammenschlägt) alle Hände voll zu tun, ihn zu schützen vor der hohen Politik, die Hentschel mobil macht. Dann gerät Felix ins Visier eines Jagdgewehrs. Schüsse fallen. Und wenn es vorbei, der Täter abgeführt ist, ist es noch nicht vorbei.
Die Bilder von Jakob Wiesner werden bleiben, dieses märchenhafte Cinemascope, dieser Wille zur Schönheit einer schrecklichen Welt. Ein paar eingestreute Lieder.
Immer wieder Fabian Hinrichs, dieser explosive Empathiker, dieser ewige Sinnsucher, der immer wieder in sich selbst aufbegehrt, und angesichts dessen man das ganze Ausmaß der Paula-Ringelhahnhaftigkeit in sich entdeckt. Und die Geschichte dieser unvergleichlichen Liebe, die keine wurde und die zwei Leben gerettet hätte.