Annie Ernaux, die 2022 zur Literaturnobelpreisträgerin gekürte französische Autorin, ist es vermutlich ihrem Linksfeminismus schuldig, dass die Männer bei ihr nicht gut wegkommen. Man kann auch sagen: Sie kommen eigentlich gar nicht vor. Mit Ausnahme des eigenen Vaters, versteht sich, denn der ist ja ein Exponent jenes Milieus, des Prekariats, das sie „rächen“ will für all die Demütigungen, die es angeblich von alters her erfahren muss: So hat sie jedenfalls in ihrer viel beachteten Nobelpreisrede aparterweise die eigene Schreibmotivation beschrieben.
Der Mann hingegen, mit dem sie fast 15 Jahre verheiratet war und dem sie zwei Söhne gebar, ein Spross der französischen Bourgeoisie, Jurist, Verwaltungsbeamter, früh an Krebs gestorben, wird in ihren vielen autobiografischen Texten allenfalls erwähnt; beschrieben, betrachtet, bewertet wird er nicht. Auch das vorliegende Buch, in dem Annie Ernaux eine Affäre schildert, die sie als über 50-Jährige mit einem Studenten aus Rouen hatte, vermittelt kein klares Bild des jungen Mannes. Selbstredend erfährt man aber, dass er ebenfalls aus dem Prekariat stammt, rasend eifersüchtig ist, ihr ein Kind machen will und überhaupt das stereotype Rollenverhalten seiner Spezies an den Tag legt.
Einen Namen bekommt der „junge Mann“ von der Autorin nicht; irgendwann ringt sie sich dann doch dazu durch, ihn „A.“ zu nennen. Überhaupt wird schnell deutlich: Um diesen Liebhaber, mit dem sie viel Matratzensex in ungeheizten Zimmern hat, was sie an ihre eigene Studentenzeit erinnert, geht es ihr im Grunde gar nicht. Natürlich ist sie geschmeichelt, dass er sie begehrt: „Schließlich hatte er eine Zwanzigjährige für mich verlassen.“ Aber entscheidend ist doch eher, was er in ihr auslöst. „Ce n’est pas toi; c’ est tout ce que tu me rappelles“ (Das bist nicht du, sondern alles, woran du mich erinnerst), heißt es einmal bei Annie Ernaux’ älterem Schriftstellerkollegen Francis Carco. Und so wird die Affäre mit A. denn auch geschildert als ein „Verhältnis, in dem sich Sex, Zeit und Erinnerung vermischten“. Dazu gehört auch die Umkehrung von Zeit. So stellt die Autorin irgendwann befriedigt fest: „Bei meinem Mann hatte ich mich als Proletin gefühlt, bei ihm war ich Bildungsbürgerin.“ Und wieder kann sie sich ein bisschen rächen.
Das Schreibprojekt der Annie Ernaux
Und dann öffnet die Erinnerung ihre Schleusen: Sie selbst als junge, unsichere Frau, in eine unklare Zukunft blickend, aber doch im Alter von A. einen existenziellen Entschluss fassend: Ihr Kind von einem Unbekannten abtreiben zu wollen – das schält sich immer mehr als „Ergebnis“ dieser erotischen Begegnung heraus. A. wird mit dem ungenierten Produktionsegoismus einer Schriftstellerin als „Zeitöffner“ instrumentalisiert. Und am Ende steht dann die Idee eines neuen Buches, in dem Annie Ernaux über ebenjene Abtreibung schreiben kann. Je mehr sie sich in das neue Schreibprojekt hineindenkt, desto klarer wird ihr, dass die Rolle von A. „in meinem Leben vorbei war. Meine initiatorische Rolle in seinem vermutlich auch.“
Vermutlich, ja, aber vielleicht auch nicht? Egal. Um ihn geht es schließlich nicht. Bevor man nun als Leser, vermutlich auch als Leserin, den Stab über diese Haltung bricht, sollte man sich klarmachen, dass ebendies zur Conditio humana des schöpferischen Menschen gehört: Er benutzt alles, was ihm widerfährt, als Stoff für sein Werk. Das ist keine sonderlich neue Erkenntnis, und diese Dynamik ist auch legitim.
Was man hingegen von einer angeblich so reflektierten Autorin wie Annie Ernaux hätte erwarten können, das wäre eine Erörterung dieser Dynamik gewesen; wohlgemerkt nicht im Sinne einer Entschuldigung oder Rechenschaft, aber doch im Sinne einer Analyse dessen, was sie da gemacht hat. Aber diese Analyse sucht man auf den gerade einmal 40 Seiten des schmalen Buches vergeblich. Vielleicht darf ein Buch, das, notabene, den Titel „Der junge Mann“ trägt, auch einfach nicht länger sein, wenn die Autorin sich als Linksfeministin versteht?
Dabei gibt das Buch gerade aus feministischer Sicht Anlass zu einer interessanten Überlegung: Könnte es sein, dass es dieses Mal einem ganz anderen Racheimpuls folgt, als die Bücher von Ernaux es üblicherweise tun? Dem Impuls der schreibenden Frau nämlich, nun endlich einmal auch ihrerseits das zu tun, was Männer seit Jahrhunderten mit Frauen anstellen: Sie als „Muse“ deklarierend, zu benutzen zum Verfassen ihrer gottbegnadeten Werke? Dafür hätte man Verständnis; für die ungeheure Kälte, die aus dieser schmallippigen Etüde spricht, nicht.
Annie Ernaux: Der junge Mann. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp, 41 Seiten, 15 Euro