Mal ist es der Fiebersaft, mal sind es Antibiotika, dann wieder sind sogar Krebsarzneien nicht verfügbar: Ausgerechnet bei wichtigen Medikamenten herrscht in Deutschland teilweise eine Mangelwirtschaft, wie man sie eher in einem unterversorgten Schwellenland vermuten würde. Und nicht in einem der wirtschaftlich stärksten Länder der Welt.
Es ist daher zu begrüßen, dass Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach die mangelnde Verfügbarkeit von Arzneien nun zur Chefsache macht. Viel zu lange haben Regierungen jedweder Couleur das Problem hierzulande beiseite geschoben, als ginge es um banale Alltagsgegenstände, statt um zum Teil überlebenswichtige Produkte.
Denn auch wenn es angesichts der vielen Hilferufe aus Apotheken, Arztpraxen, Kliniken und vor allem von verzweifelten Eltern in den sozialen Medien so klingen mag: Ein neues Phänomen sind die fehlenden Medikamente nicht. Lieferengpässe bis hin zu gefährlichen Versorgungslücken gibt es seit Jahren, bei Impfstoffen genauso wie bei Medikamenten.
Nach drei Jahren Pandemie hat das Problem allerdings eine Dimension erreicht, die sich nicht mehr so einfach ignorieren lässt. Zwar läuft die Produktion vielerorts längst wieder auf Hochtouren. Doch ausgerechnet in China, Werkbank der Welt für die meisten Grundstoffe der Arzneimittelindustrie, hakt es nach wie vor: Erst wegen des harten Lockdowns, jetzt wegen der Omikron-Welle, die auf eine bisher wenig geschützte Bevölkerung trifft. Gleichzeitig ist die Nachfrage nach vielen Standard-Medikamenten – auch wegen der zum Teil ungewöhnlich schweren Ausbrüche von RSV, Influenza und Scharlach – in vielen Ländern noch höher als sonst zu dieser Jahreszeit.
Höhere Festpreise, wie Lauterbach sie nun für Kinderarzneien vorschlägt, sind da sicher nicht ganz falsch. Tatsächlich ist der Sparzwang bei vielen Nachahmermedikamenten in den vergangenen Jahren auf die Spitze getrieben worden, weshalb sich immer mehr Anbieter aus der für sie unrentablen Herstellung zurückgezogen haben.
Doch die Ursachen für das Problem reichen weit tiefer. Was man auch daran sieht, dass längst nicht nur Deutschland im Moment ein Medikamentenproblem hat. Auch in den USA, in Kanada, Großbritannien und Frankreich – um nur einige Beispiele zu nennen – fehlt es an Antibiotika und Fiebersenkern.
„Wir haben es schon längere Zeit mit Lieferengpässen zu tun“
„Mit dieser großen Infektionswelle wird es bedrohlich“, sagt Gabriele R. Overwiening, Präsidentin der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände. Von Gesundheitsminister Lauterbach fordert sie mehr Unterstützung.
Quelle: Welt
Jetzt rächt sich, dass der Drang nach einer möglichst billigen Medizin zu einer extremen Konzentration in der Herstellung von Medikamenten geführt hat. Teilweise hängt die Versorgung mit wichtigen Arzneimittelwirkstoffen vom Wohl und Wehe einiger weniger verbliebener Hersteller in China und Indien ab. Fällt einer von ihnen aus, hat die ganze Welt ein Problem.
Die meisten Verbesserungsvorschläge aus dem Ministerium Lauterbachs, von der schärferen Überwachung der Lieferprobleme bis hin zur Zusatzvergütung für Apotheker, die Mangelpräparate neu anmischen, werden daran allerdings nichts ändern. Und einfach nur mehr Geld auszugeben für ein knappes Produkt ändert an der Knappheit nichts und würde im schlimmsten Fall – ähnlich wie bei den Masken zu Beginn der Corona-Pandemie – nur zu einem absurden Wettbieten der reichsten Nationen führen.
Umweltrichtlinien lassen Medikamenten-Produktion hierzulande gar nicht zu
Was es daher hauptsächlich braucht, ist ein europäischer Ansatz, der diesen Namen tatsächlich verdient. Und der dafür sorgt, dass Produktionskapazitäten für wichtige Wirkstoffe auf dem Kontinent ausgebaut werden, um Abhängigkeiten zu reduzieren. Bisher lassen die strengen Umweltrichtlinien eine Produktion hierzulande allerdings zum Teil gar nicht mehr zu. Auch daran müsste Europa technisch und regulatorisch arbeiten – anstatt das Problem wie bisher wenig nachhaltig einfach nach Indien und China auszulagern.
Das alles wird Zeit kosten und vor allem deutlich mehr Geld als bisher. Die Gesellschaft wird sich darauf einstellen müssen: Die Zeiten einer sicheren Medikamentenversorgung zu den bisherigen Discount-Preisen sind vorbei.
„Alles auf Aktien“ ist der tägliche Börsen-Shot aus der WELT-Wirtschaftsredaktion. Jeden Morgen ab 5 Uhr mit den Finanzjournalisten von WELT. Für Börsen-Kenner und Einsteiger. Abonnieren Sie den Podcast bei Spotify, Apple Podcast, Amazon Music und Deezer. Oder direkt per RSS-Feed.