Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck sorgt sich um die Lage der Demokratie. Die große außenpolitische Bedrohung durch Russland treffe die liberale Demokratie „in einem Zustand erheblicher Verunsicherung und Selbstbefragung“, sagt er gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“.
„Unter dem Eindruck gleich mehrerer Krisen fremdeln Bevölkerungsgruppen, die traditionell und sicherheitsorientiert sind, mit der immer größeren Vielfalt in unserer offenen Gesellschaft und verlangen ein effektiveres Handeln und eine robustere Führung“, führte Gauck aus. „Auf der anderen Seite entwickeln Teile einer progressiven, universitären Elite gruppenzentrierte Fortschrittsmodelle, in denen die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte relativiert oder negiert und die Aufklärung gar als ein Element westlicher Dominanz dargestellt wird.“
In Zeiten des forcierten Wandels schlage „die große Stunde der Verführer und der Nationalisten“, warnte Gauck. „Es droht ein Drift hin zum Extremen, wenn Ängste der Menschen von demokratischen Parteien nicht ernst genommen werden.“ Demokratische Parteien dürften Themen nicht ignorieren, die nennenswerte Bevölkerungsgruppen verunsichern. „Sie müssen und können sie als Wähler zurückgewinnen. Denn längst nicht alle, die etwa AfD oder Schwedendemokraten wählen, sind Faschisten.“
Man müsse begreifen, „dass sich nicht alle in gleichem Umfang und in gleichem Tempo dem forcierten Wandel, den technischen Innovationen und den neuen geopolitischen Realitäten anpassen und – wie auch in früheren Zeiten – in unpolitischen Individualismus flüchten“. Gauck forderte: „Wir müssen immer einen Weg suchen zwischen dem Frust und den Ängsten der einen und den fast missionarischen Absichten der Erneuerer.“
Gauck war von 2012 bis 2017 das deutsche Staatsoberhaupt.