Friday, May 3, 2024

Demokratie-Experte Ansell: „Die Demokratie akzeptiert, dass wir egoistisch sind“

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Ben Ansell ist Professor für Politikwissenschaften am Nuffield College der Universität Oxford und einer der führenden Demokratie-Experten Großbritanniens. In seinem neuen Buch „Warum Politik so oft versagt“ geht der Politologe der Frage nach, vor welche Herausforderungen liberale Demokratien gestellt sind.

WELT: Die westlichen Demokratien stehen buchstäblich unter Beschuss: Die Ukraine kämpft im zweiten Kriegsjahr gegen Russland, der Iran hat kürzlich erstmals Israel direkt angegriffen. Hat der Westen seine Autorität in der Welt verloren?

Ben Ansell: Er hat seine relative Macht verloren. Vor 1989 war es üblich, dass der Westen von nicht westlichen Mächten angegriffen wurde, so wie Israel in den Jahren 1948, 1967 und 1973 von Ländern, die teilweise mit der Sowjetunion verbündet waren. Dann brach die Sowjetunion zusammen und die USA etablierten sich als dominierende Macht. Damals glaubten viele, die Demokratie habe endgültig gesiegt. Aber das war nicht der Fall. Denn nach und nach sind Russland und gleichzeitig China aufgestiegen, was zu einem relativen globalen Machtverlust des Westens führte, wie wir heute beobachten können.

Demokratieexperte Ben Ansell

Ben Ansell
Quelle: © Fran Monks

WELT: Derzeit wird viel über die Gefahren einer Wiederwahl Donald Trumps für die westlichen Demokratien diskutiert. Ist das Vorsicht oder Panikmache?

Ansell: Ich glaube nicht, dass Trump die Substanz der amerikanischen Demokratie bedroht. Er würde keine Entscheidungen am Kongress vorbei treffen oder das Wahlrecht einschränken. Aber er ist eine Gefahr für die Demokratie in Osteuropa. Er würde Estland, Lettland oder Litauen im Kriegsfall nicht verteidigen. Also müssen die europäischen Länder einspringen. Die Europäer merken inzwischen, dass sie sich nicht mehr darauf verlassen können, dass die Amerikaner sie schützen. Was das bedeutet, hätten sie schon vor vielen Jahren diskutieren müssen, als die USA schon darüber klagten. Aber niemand nahm die Beschwerden ernst.

WELT: In Europa sind rechtspopulistische Parteien auf dem Vormarsch, Politikbeobachter sehen in ihnen eine Gefahr für die Demokratie. Stimmen Sie dem zu?

Ansell: Ja, wir haben seit 1945 nicht mehr erlebt, dass diese Parteien Wahlen in Europa bestimmen. Wir wissen noch nicht, was es bedeuten würde, wenn wir in Europa langfristig populistische Staatschefs hätten. Die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni kommt diesem Szenario noch am nächsten. Sie ist eindeutig konservativ mit einer Tendenz zur rechten Mitte, hat aber bisher viele radikale Vorschläge abgelehnt. Vielleicht sieht so eine Zukunft für Europa aus. Auffällig an der Präsidentschaft von Donald Trump war, dass vor allem der Verwaltungsapparat litt. Das lag vor allem daran, dass politische Gefolgsleute aus rein parteipolitischen Gründen in bürokratische Ämter berufen wurden. Das hat den Staat mehr als alles andere geschwächt.

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WELT: Rechtspopulisten sind auch deshalb so erfolgreich, weil das Vertrauen in die etablierten Parteien verloren gegangen ist. Wie lässt es sich wiederherstellen?

Ansell: Ein Großteil der Unzufriedenheit und des Misstrauens im Westen rührt daher, dass das Wirtschaftswachstum in den meisten Ländern seit zwei Jahrzehnten stagniert. Unsere Politik wird negativer und ist mehr auf Verteilung ausgerichtet, weil es relativ gesehen einfach weniger gibt. Vor diesem Hintergrund ist es sehr schwierig, die Menschen glücklich zu machen, denn jeder glaubt, dass das Leben für ihn härter ist als für seine Eltern.

Aus diesem Gefühl heraus entstehen Dinge wie Identitätspolitik und der „Kulturkampf“. Deren Anhänger glauben, dass es einer Gruppe, der sie selbst nicht angehören, besser geht oder sie aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Geschlechts ungerechtfertigte Vorteile haben. Diese Behauptungen sind in Zeiten geringen Wirtschaftswachstums viel erfolgreicher. Allerdings wächst die amerikanische Wirtschaft derzeit, und den Menschen dort geht es nicht viel besser. Zwei oder drei Jahre gutes Wachstum können also nicht alle unsere Probleme lösen.

WELT: Langfristiges Wirtschaftswachstum könnte dagegen wieder Vertrauen schaffen?

Ansell: Nicht nur. Manchmal helfen auch charismatische Politiker. Deutschland war lange sehr auf Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) angewiesen, eine politische Figur, die über fast allen anderen schwebte. Und um es ganz einfach zu sagen: Wenn die ältere Generation stirbt und durch eine neue Generation ersetzt wird, für die LGBTQ-Rechte kein Streitthema mehr sind, werden die Diskussionen abnehmen. Aber das gilt nicht für alle Länder: In Spanien und Frankreich sind rechtsextreme Parteien bei jungen Leuten beliebt.

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WELT: Liberale Demokratien haben lange im Überfluss gelebt, jetzt bekommen sie die Quittung. Rechtspopulistische Parteien geben eine einfache Antwort: Alles kann so bleiben, Probleme wie der Klimawandel sind herbei gedacht. Wie lässt sich dieses Narrativ dekonstruieren?

Ansell: Einige dieser großen Herausforderungen erfordern, dass wir zugeben, dass wir Opfer bringen müssen. Politiker postulieren, dass wir Netto-Null erreichen können und es keine Verlierer geben wird. Aber Netto-Null ist nicht gleich Nullsumme. Nicht jeder wird gewinnen, und die Menschen sind keine Idioten, sie wissen das. Die Politiker müssen ehrlicher sein, was die Kosten von Maßnahmen angeht, dann können sie die Menschen auch eher überzeugen.

WELT: Auf der linken Seite des politischen Spektrums gibt es die als „woke“ bezeichnete Bewegung, die den Anspruch vertritt, besonders aufmerksam auf gesellschaftliche Missstände zu blicken. Kritiker sehen in ihr eine Bedrohung der Meinungsfreiheit und damit der Demokratie. Teilen Sie diese Befürchtung?

Ansell: Ich bin da sehr entspannt, ich sehe das als eine Fortsetzung ähnlicher Bewegungen seit den 60er-Jahren – Bürgerrechte, Feminismus, gleiche Rechte für Homosexuelle. Das hat damals viele Leute verärgert. Manchmal diejenigen, die aktiv gegen die Gleichheit von Geschlecht und ethnischer Herkunft waren – was die meisten von uns heute als falsch bezeichnen würden. Aber auch viele weniger politisierte Bürger: jene, die jede Art von Veränderung misstrauisch oder nervös macht. Ich glaube, das ist eine ganz menschliche Reaktion.

Veränderung geschieht durch Demografie, aber auch durch Überzeugung. Bewegungen für soziale Gerechtigkeit werden immer einen Kompromiss finden müssen zwischen der Bekämpfung und der Überzeugung von Gegnern. Letztlich zeichnet sich erfolgreiche demokratische Politik dadurch aus, dass Menschen Wege finden, auf akzeptable Weise Entscheidungen zu treffen, obwohl sie nicht einer Meinung sind.

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WELT: Studien zeigen, dass viele Menschen zwar Maßnahmen zum Klimaschutz befürworten, aber persönlich dafür keine Abstriche machen wollen. Das deutsche Heizungsgesetz etwa hat für viel Unmut gesorgt und wurde schließlich verwässert. Sind wir zu egoistisch für die Demokratie, weil wir unsere persönlichen Interessen über das Gemeinwohl stellen?

Ansell: Nein, denn die Demokratie akzeptiert, dass wir egoistisch sind, genauso wie der Kapitalismus akzeptiert, dass wir unsere eigenen Dinge haben wollen. Probleme entstehen, wenn wir politische oder wirtschaftliche Systeme schaffen, die vorgeben, dass wir es nicht sind. Die ideologische Grundannahme des Kommunismus und teilweise auch des Faschismus war, dass jeder an den Staat glaubt und tut, was dieser vorgibt. Das hat sich nicht als effektive Regierungsform erwiesen.

WELT: Dem Westen wird oft Doppelmoral vorgeworfen. Er wird kritisiert, weil er die Ukraine im Kampf gegen den russischen Aggressor unterstützt, aber das israelische Vorgehen in Gaza nicht geschlossen verurteilt.

Ansell: Es ist genauso unvernünftig zu glauben, dass alle Menschen uneigennützig handeln, wie zu glauben, dass alle Länder dies tun. Wir haben gute Absichten und handeln danach, aber nicht immer. Deshalb brauchen wir Regeln. Manchmal zwingen uns unsere Institutionen, Dinge umzusetzen, die wir gerne tun würden, aber nicht alleine. Und manchmal tun sie es nicht. Die Nato etwa würde besser funktionieren, wenn die Höhe der Verteidigungsausgaben verbindlich festgelegt werden könnte.

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WELT: Sind liberale Demokratien nicht auch selbst schuld an diesen hohen Maßstäben, weil sie sich selbst zum Gradmesser „guter“ Politik stilisieren?

Ansell: Liberale Demokratien überzeugen sich manchmal selbst davon, dass ihr politisches System besser und unangreifbar ist. Aber auch dieses System ist nicht vollkommen. In einer Beziehung ist es am besten, zu signalisieren, dass man fehlbar ist. Ich glaube, das gilt auch für unser politisches Leben.

„Warum Politik so oft versagt“ von Ben Ansell, Siedler, 28 Euro.

„Warum Politik so oft versagt“ von Ben Ansell, Siedler, 28 Euro.
Quelle: Siedler

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