Der Mann atmet schwer. Sein Keuchen ist auf dem Mitschnitt des Anrufs bei der Notrufnummer 110 vom 9. Dezember 2023 deutlich zu hören, die Aufnahme des Telefonats wird nun im Saal 218 des Bremer Landgerichts abgespielt. „Ja, Hallo, Hussein A. ist mein Name“, sagt der Mann. „Ich habe gerade meine Schwester umgebracht. Haben Sie das gehört? Ich habe sie mit Messer abgestecht“, sagt er und gibt seine Adresse an.
„Wir schicken Kollegen“, sagt der Polizist am anderen Ende der Leitung nach einer Pause, und es klingt so, als ob er nicht genau wisse, ob das, was der Anrufer sagt, ernst gemeint ist. Als die Beamten wenige Minuten später eintreffen und durch das Mehrfamilienhaus nach ganz oben in die Wohnung stürmen, steht die Tür offen. Hussein A. lässt sich widerstandslos festnehmen.
Mord aus niederen Beweggründen
Richterin Gesa Kasper, die den ersten Verhandlungstag am vergangenen Mittwoch führte, könnte einen juristisch unkomplizierten Prozess vor sich zu haben: Ein Bruder tötet seine Schwester, er gesteht die Tat vor den Beamten, die den Leichnam finden.
Doch sowohl die Tat als auch das Motiv erscheinen unfassbar. Denn Hussein A. soll an diesem Dezembertag gegen 23.20 Uhr seine Schwester Ilham, 23, aus „niedrigen Beweggründen“ ermordet haben, weil er mit dem Lebenswandel „der Geschädigten“ aus „seinen kulturellen Vorstellungen“ heraus nicht einverstanden gewesen sei. Er habe daher beschlossen, sie zu töten, um seine Ehre wiederherzustellen, trägt die Staatsanwältin in ihrer Anklage vor.
Hussein A. benutzte ein Küchenmesser und rammte die 18,5 Zentimeter lange Klinge mindestens fünf Mal in den Oberkörper seiner Schwester, die in ihrem Zimmer auf dem Bett lag. So durchstach er den Herzbeutel, traf Leber, Darm und eine Rippe sowie einen Lungenunterlappen. Er stieß so fest zu, dass das Messer dabei verbog.
Am ersten Prozesstag in Bremen berichtet ein Polizist, der zusammen mit einer Beamtin zuerst in der Wohnung eintraf, vom Einsatz. Der Zeuge sagt aus, wie er Ilham A. auffand.
Aus den Wunden strömte Luft und Blut
„Ich habe sie angesprochen, sofort den Puls gefühlt und die Atmung kontrolliert“, sagt der Beamte. „Aber da war nichts mehr.“ Als er mit Wiederbelebung und einer Herzdruckmassage begann, merkte er, wie Luft und Blut aus den Zentimeter großen Wunden entwichen. Auch der Notarzt konnte nur noch den Tod feststellen.
Hussein A. wirkte auf die Beamten ganz ruhig, sagt die Polizistin vor Gericht aus. „Er redete gleich auf uns ein: Er habe es getan, er habe seine Ehre verteidigt, er habe es mit einem Messer getan, wisse, was jetzt passiert und habe die Tasche fürs Gefängnis gepackt“, berichtet die Beamtin. „Er sah das ganz emotionslos, da waren keine Tränen in den Augen zu sehen.“
In seiner Wohnung fanden Ermittler wenige Tage später zwei handgeschriebene Briefe, in denen er sein Vorhaben schon vor der Tat begründet hatte. Richterin Kasper liest sie vor. „Ich habe meine Schwester umgebracht, damit ich meine Ehre retten kann, meine Schwester versucht, eine Schlampe zu sein, das kann sie sein. Damit ich Ehre haben kann, muss ich sie toten. Ich kann keine Zukunft haben ohne Ehre. An meine Schwestern: Ich liebe euch.“
In diesem Augenblick schluchzen die Frauen, die Hussein A. zuvor von der Zuschauerbank aus anlächelten und grüßten. Es sind zwei Schwestern und die Verlobte des Angeklagten. Obwohl der große Bruder zugegeben hat, ihre gemeinsame Schwester ermordet zu haben, scheinen sie zu ihm zu stehen. „Hussein, Hussein“, rufen sie, als dieser den Raum bei einer Pause verlässt. Eine der Frauen hält ein Baby im Arm. Hussein A. wohnte mit drei Schwestern, einem Schwager und zwei Kindern zusammen in einer Wohnung.
An seine Verlobte schrieb er ebenfalls einen Brief. „Schatz, es tut mir leid, dass ich Dich alleine gelassen habe. Ich wollte mit dir sein und mit dir bleiben, aber Allah möchte nicht, dass wir uns jetzt heiraten“, liest die Richterin vor.
Die Somalierinnen weinen. Hussein A. hört der Verlesung seiner Aussagen regungslos zu. Er werde heute keine Erklärung abgeben, sagt sein Pflichtverteidiger Alexander Gellinger. „Die psychische Verfasstheit meines Mandanten wird eine Rolle spielen“, teilt er nur mit. Hussein A. hat sich gegenüber der psychiatrischen Sachverständigen Imke Mundorf-Vetter geäußert; ihr Gutachten soll sie am 7. Mai, dem kommenden Verhandlungstag, vorstellen.
Dann dürfte es um das Motiv gehen. Die somalische Familie A. lebt nach Auskunft des Verteidigers „seit ein paar Jahren“ in Deutschland. Wie der Angeklagte hier gelebt hat, ob er arbeitete und wie die Familie sich hier zurechtfand, ist bislang noch unklar. Angesichts der Verhältnisse in Somalia aber sollte es ihnen in Deutschland besser gegangen sein.
Ihr Heimatland gehört zu den ärmsten der Welt. Bürgerkriege, Dürren, Überschwemmungen und Hungersnöte haben die staatliche Ordnung ausgehöhlt und weite Teile Somalias in einen rechtsfreien Raum verwandelt. Es gibt wenige Hilfsorganisationen, die sich in das Land trauen.
Nur etwa knapp die Hälfte der somalischen Bevölkerung kann lesen und schreiben, bei Frauen sinkt der Anteil auf ein Drittel. Sie haben deutlich weniger Rechte als Männer und gelten in der streng patriarchalisch geprägten Gesellschaft als „Trägerinnen der Familienehre“.
So hat die deutsche Frauenrechtsorganisationen Terre des Femmes e.V. ermittelt, dass 45 Prozent der Somalierinnen vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet werden, arrangiert von den Familien, acht Prozent sogar vor ihrem 15. Lebensjahr. Das läge zum einen daran, dass die Frauen den Bräuchen entsprechend auf jeden Fall jungfräulich in die Ehe gehen müssen, zum anderen sollen diese Verbindungen dem Schutz der Frauen dienen.
Fast alle Somalierinnen sind genitalverstümmelt
Sexualisierte Gewalt ist an der Tagesordnung, wird aber kaum geahndet. Im Jahr 2021 meldete die UN einen „alarmierenden Anstieg“ sexueller Gewalttaten um 80 Prozent, schreibt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in einer Studie. 2022 sollen nach diesen Schätzungen 2,3 Millionen somalische Frauen Opfer solcher „geschlechterbasierten“ Taten geworden sein.
Nach Schätzungen sind zwischen 96 und 98 Prozent der Somalierinnen genitalverstümmelt – das ist die weltweit höchste Rate dieser Art der schweren Körperverletzung. Das, so die Begründung, schütze die Mädchen vor erwünschtem und unerwünschtem Geschlechtsverkehr und könne ihre „Reinheit“ aufrechterhalten, berichtet Terre des Femmes.
Hussein A. bezog sich in seinem Brief ausdrücklich auf den Lebenswandel seiner Schwester, die er als „Schlampe“ bezeichnete. Was genau sie gemacht haben soll, dass ihr Bruder sie tötete, ist noch unklar. Er schrieb: „Sorry an Mama, dass ich nicht besser auf meine Zukunft aufgepasst habe. Ich musste das machen.“ Obwohl ihm bewusst war, dass er für Jahre ins Gefängnis gehen würde, stellte Hussein A. das Bedürfnis nach der Wiederherstellung der „Ehre“, so wie er sie kannte, über die eigene Lebensplanung.
Sogenannte Ehrenmorde weisen stets Parallelen auf. Die Täter stammen vorwiegend aus patriarchalisch geprägten Gesellschaften, in denen die Familie eine herausgehobene Stellung einnimmt. Frauen haben sich den ungeschriebenen Regeln zu unterwerfen. Schon ein vermeintliches „Vergehen“ wie etwa ein Spaziergang ohne männliche Begleitung kann die Familie scharf sanktionieren. Im Jahre 2022 kamen laut Statistik des Bundeskriminalamtes in Deutschland insgesamt 133 Frauen und 33 Männer durch Partner oder Ex-Partner ums Leben. Nur die wenigsten dieser Fälle gelten als Ehrenmorde. Eine weiter gehende Auswertung, etwa zu Straftaten von Brüdern, Vätern oder anderen Verwandten, gibt es nicht.
Terre des Femmes fand heraus, dass mindestens 26 Menschen in Deutschland zwischen 2021 und 2022 Opfer eines vollendeten oder versuchten „Ehrenmordes“ wurden. Dabei starben neun Frauen und vier Männer. Die Recherche beruhte auf der Auswertung von Zeitungsartikeln. Sie zeige, dass „ein freies und selbstbestimmtes Leben für viele Frauen auch in Deutschland immer noch keine Selbstverständlichkeit“ sei, so die Organisation.
Richterin Kasper versuchte, der Frau in der Verhandlung ein Gesicht zu geben. „Wir lernen den Angeklagten kennen, aber die Schwester nicht, daher möchte ich wenigstens ein Bild von ihr aus der Akte zeigen.“ Der Großbildschirm im Saal zeigt dann ein Foto von Ilham A.
Auf dem Bild ist eine Frau zu sehen, die noch mädchenhafte Gesichtszüge hat, sie lächelt und trägt ein leuchtend blaues Kopftuch. Zeugenaussagen zufolge sei sie immer mit einem Tschador aus dem Haus gegangen. Am 9. Dezember 2023, als ihr Bruder ihr das Leben nahm, war ihr 23. Geburtstag.