Clare Lombardelli ist so etwas wie die Chefberaterin der reichen Welt. Seit Januar ist sie Chefvolkswirtin der OECD. Die Organisation, eine Denkfabrik überwiegend wohlhabender Industrieländer, konzentriert sich darauf, die Politik in den 38 Mitgliedsländern zu vergleichen und den Regierungen Reformempfehlungen zu geben. Am 7. Juni veröffentlichte die Organisation ihre aktuelle Konjunkturprognose, eine ihrer wichtigsten Publikationen.
WELT hat mit Lombardelli über Reformbedarf in Deutschland, über die Integration von Flüchtlingen aus der Ukraine und über das Risiko einer neuen Energiekrise gesprochen. Es ist das erste Interview der Chefvolkswirtin mit einem deutschen Medium.
WELT: Deutschland ist Ende vergangenen Jahres in eine technische Rezession gerutscht. Sie und ihre Kollegen prognostizieren für die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr eine Stagnation und für das kommende Jahr ein Wachstum von nur noch 1,3 Prozent. Ist Deutschlands goldenes Jahrzehnt vorbei?
Clare Lombardelli: Nein, das würde ich nicht sagen. Deutschlands Wirtschaft stagniert zwar gerade. Ich bin aber optimistisch. Die Exporte nehmen zu und werden weiter wachsen, die Engpässe in den Lieferketten sind größtenteils behoben und die deutsche Industrie sitzt auf einem Berg unerledigter Aufträge. Ich erwarte deshalb, dass die deutsche Wirtschaft bald wieder kräftig wachsen wird. Die Aussichten für starkes Wachstum sind deshalb gut in Deutschland. Aber die Regierung muss dabei mithelfen.
WELT: Wie?
Lombardelli: Die Energiewende ist Deutschlands größte Herausforderung. Die Bundesregierung muss den Wechsel hin zu Erneuerbaren noch schneller vorantreiben. Die Bürokratie blockiert die Energiewende. Die Planung und Genehmigungsverfahren für Infrastruktur müssen gestrafft werden. Die Kapazitäten für Planverfahren müssen massiv ausgeweitet werden, vor allem bei den Gemeinden. Nur so kann die Energiewende auch funktionieren.
WELT: Wo sehen Sie noch Verbesserungsbedarf?
Lombardelli: Deutschland lässt viele Chancen der Digitalisierung ungenutzt. Die Politik, aber auch Unternehmen müssen die Vorteile neuer Technologien stärker als bisher nutzen. Andernfalls lässt die Volkswirtschaft viele Möglichkeiten für mehr Produktivität und Wachstum verstreichen. Deutschland droht technologisch hinter andere Länder zurückzufallen. Auch auf dem Arbeitsmarkt muss die Regierung entschiedener handeln.
WELT: Sie versucht ja bereits, Fachkräfte ins Land zu holen.
Lombardelli: Das ist gut und schön. Aber die Politik muss auch die Potenziale im Inland heben. Es muss für Frauen attraktiver werden zu arbeiten. Wir kritisieren seit Langem das Ehegattensplitting, dass es für Partner häufig wenig attraktiv macht, zu arbeiten. Deutschland muss auch Anreize und Arbeitsbedingungen für ältere Arbeitnehmer, die gerne länger arbeiten, verbessern. Das kann dabei helfen, das zunehmende Probleme einer alternden Gesellschaft abzufedern. Und Deutschland sollte die Gelegenheit nutzen, die der große Zustrom von Flüchtlingen aus der Ukraine bietet.
WELT: Statistiken zeigen allerdings, dass in Deutschland nur eine Minderheit der Ukraine-Flüchtlinge einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit nachgeht. Viel weniger als in Nachbarländern. Was macht Deutschland falsch? Was machen andere besser?
Lombardelli: Deutschland hat sehr viele Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Die große Zahl von Ukraine-Flüchtlingen macht die Integration schwieriger. Aber die Flüchtlinge sind eine große Chance für Deutschland. Wenn die Politik dafür sorgt, dass diese zusätzlichen Arbeitskräfte auch Arbeitsplätze finden, dann könnten dadurch sogar Engpässe am Arbeitsmarkt teilweise verschwinden. Wenn mehr Flüchtlinge arbeiten, würde das die Inflation senken. Eine Voraussetzung dafür ist, dass die Qualifikationen von Flüchtlingen aber auch anderen Migranten schneller und leichter anerkannt werden.
WELT: Sie haben ausgerechnet, dass die Gehälter in Deutschland durch die hohe Inflation im vergangenen Jahr real um 5,3 Prozent gesunken sind. Wie lange wird es dauern, bis Arbeitnehmer diese Verluste wieder aufholen? Schließlich dürfte die Inflation hoch bleiben und es ist fraglich, ob die Lohnerhöhungen damit Schritt halten.
Lombardelli: Arbeitnehmer werden die Inflationsverluste nur teilweise aufholen. Wir erwarten, dass die Inflation langfristig sinkt und dass Löhne langsam steigen werden. Natürlich werden die Preise auf dem derzeitigen Niveau bleiben, selbst wenn die Inflation sinkt. Aber wir haben möglicherweise den Punkt des maximalen Schmerzes bereits erreicht. Wenn die Preise stabil bleiben und die Löhne steigen, wird die Situation für Arbeitnehmer erträglicher.
WELT: In ihrer Konjunkturprognose verweisen Sie darauf, dass die Wirtschaft auch davon profitiert, dass die Preise für Gas und Strom gesunken sind. Zuletzt sind sie allerdings wieder in die Höhe geschossen. Werden wir zum Winter hin eine neue Energiekrise bekommen?
Lombardelli: Wir erwarten, dass Strom und Gas günstig bleiben. Das ist aus unserer Sicht die wahrscheinlichste Entwicklung. Aber es gibt natürlich Risiken. Wenn der Krieg in der Ukraine weitergeht, könnten die Gaspreise wieder steigen. Viel wird auch davon abhängen, wie kalt es in diesem Winter wird. In den vergangenen Monaten hat Europa die Energiekrise auch so gut bewältigt, weil der Winter ungewöhnlich warm war. Wenn der nächste Winter besonders kalt wird, hat Europa ein Problem. Und auch die globale Nachfrage spielt eine Rolle. Vor dem vergangenen Winter beispielsweise galten in China noch harte Lockdown-Regeln und das hat für weniger Nachfrage auf dem Weltmarkt gesorgt. Jetzt hat China die Covid-Restriktionen fallen lassen und die chinesische Nachfrage wird mitentscheiden über den Weltmarktpreis. Wir erwarten zwar niedrige Preise, aber die Energiekrise kann im Herbst wiederkommen.
WELT: Sie schreiben in ihrem Konjunkturbericht, dass Deutschland seinen Gasverbrauch um 20 Prozent reduzieren muss, um Gasknappheit und hohe Preise im Winter zu vermeiden. Ist eine Reduktion um ein Fünftel nach all den Reduktionen in diesem Jahr realistisch?
Lombardelli: Deutschland hat nach dem Ausbruch des Krieges viele beeindruckt. Die deutsche Politik und Wirtschaft haben im Rekordtempo Alternativen zu russischem Gas gefunden. Dass Deutschland so schnell seine Energieversorgung umstellt, hätte niemand erwartet. Die Volkswirtschaft hat weniger verbraucht und neue Quellen erschlossen. Und diese Entwicklung muss weitergehen. Deutschland muss schneller auf erneuerbare Energien umsteigen und seine Energieeffizienz verbessern, um den Gasverbrauch zu reduzieren. Das ist eine Herausforderung, aber es ist möglich.
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