In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag könnte in Dortmund eine der größten Partys seit Jahren steigen. Die marokkanische Community in der Nordstadt, einem von vielen Migranten bewohnten Gebiet, rüstet sich für ein Fest, das die Feierlichkeiten nach dem Einzug der Marokkaner ins Halbfinale am vergangenen Samstag in den Schatten stellen dürfte: Sollten die Nordafrikaner tatsächlich das WM-Endspiel erreichen – der Verkehr in der Nordstadt dürfte komplett zusammenbrechen und der Borsigplatz, wo normalerweise der BVB seine Titel feiert, dürfte in das rote Licht von tausenden bengalischen Fackeln eingetaucht sein.
Ein ähnliches Bild dürfte es in vielen europäischen Innenstädten geben – sollte Marokko ein weiteres Wunder schaffen und die Franzosen besiegen (20.00 Uhr, im Sport-Ticker der WELT). Doch es dürften längst nicht Marokkaner oder Fans mit marokkanischen Wurzeln sein, die dann feiern: Es würden auch Afrikaner und Araber sein, die ganz andere nationale Wurzeln haben.
Nach Marokko-Sieg – Ausgelassene Feiern, aber auch Gewalt
Marokkos Fußballer versetzen ihre Heimat in einen Freudentaumel. Der Einzug des Teams ins WM-Halbfinale wird auch in deutschen Städten gefeiert. In Frankreich und Großbritannien haben die Feiernden allerdings Großeinsätze der Polizei ausgelöst.
Quelle: WELT | Laura Kipfelsberger
Die „Löwen vom Atlas“ sind längst keine reine Nationalmannschaft mehr – sie sind das Team, mit dem Millionen Migranten aus Afrika und dem Nahem Osten Hoffnungen verbinden. Sie sind zudem auch die Helden für Menschen mit Migrationshintergrund in sozial schwachen Stadtteilen in Europa – besonders in Frankreich. Ein Drittel der ausländischen Bevölkerung im Land des Halbfinalgegners ist maghrebinischer Abstammung. Ein nicht unerheblicher Teil der 710.000 Algerier, 575.000 Marokkaner und 230.000 Tunesier lebt in schwierigen Verhältnissen.
Marokko kassierte erst ein Gegentor bei WM in Katar
Einer von ihnen war Walid Regragui. „Ja, ich komme aus einer anderen Nachbarschaft, aber ich werde mich nicht darüber beschweren“, sagte der Trainer der Überraschungsmannschaft bei dieser WM. Regragui ist in Corbeill-Essonnes aufgewachsen – einer Vorstadt von Paris, die mehrfach von Jugendkrawallen betroffen war. Im November 2005 brannten hier Autos, zwei Bereitschaftspolizisten wurden krankenhausreif geschlagen. Regragui hatte es dort heraus geschafft. Sprechen möchte der 47-Jährige darüber nicht, zumindest derzeit nicht. „Ich möchte mich nicht auf diese Geschichte fokussieren. Ich bin hier, weil ich ein guter Trainer bin“, sagte er am Dienstag.
Regragui spielte zwar in Frankreich Fußball, hat sich aber immer zur Heimat seiner Eltern bekannt. Zwischen 2001 und 2009 war er 52 Mal in die marokkanische Nationalelf berufen worden. Seit August ist er Nationaltrainer. Regragui ist sich sehr bewusst, welche Emotionen die Erfolge seines Teams derzeit auslösen – und wie auch er selbst mit seinem Lebensweg wahrgenommen wird. „Ich versuche, ein gutes Beispiel zu geben“, erklärte er.
Das verlangt er auch von seinen Spielern. Es gehe darum, aufzuzeigen, was möglich ist. Das hervorstechende Merkmal seiner Mannschaft ist ein hohes Maß an Disziplin, was in den vergangenen Jahren nicht immer so war. Doch in Katar verteidigt Marokko aufopferungsvoll. Im gesamten Turnier musste erst ein Gegentor zugelassen werden – ein Eigentor von Nayef Aguerd beim 2:1 gegen Kanada in der Gruppenphase. Kapitän Romain Saiss hält die Abwehr zusammen, auch die Offensivspieler arbeiten mit nach hinten. Die Folge: Hinten stand ansonsten die Null. Belgien, Kroatien, Spanien, Portugal – keines dieser prominenten Teams erzielte ein Tor.
Marokko präsentiert sich als Team, bei dem auch die Spieler, die normalerweise herausragen, ihr Ego zurückstellen. Sei es Achraf Hakimi von Paris St. Germain. Der Rechtsverteidiger arbeitet vor allem defensiv und grätscht deutlich häufiger als in den zwei Jahren, als er für den BVB gespielt hatte. Damals hatte es immer wieder Klagen gegeben, weil Hakimi nach seinen Vorstößen vorn stehen blieb. Am Mittwoch wird es Hakimi vor allem mit Frankreichs Superstar Kylian Mbappé zu tun bekommen – dem er zumindest in Bezug auf Schnelligkeit gewachsen ist.
Das Mittelfeld ist ebenfalls extrem kompakt und lässt dem Gegner kaum Raum für Kombinationen. Die Spanier mussten im Achtelfinale genauso wie die Portugiesen im Viertelfinale ihre Angriffsversuche immer wieder abbrechen und auf mühsame Art neu starten.
Auch die Offensivspieler tragen ihren Teil zum Bollwerk bei. Hakim Ziyech vom FC Chelsea, der vielleicht beste Fußballer im Team, überzeugt in Katar vor allem durch Laufbereitschaft und Zweikampfstärke. Sein Team sei trotz durchaus starker Individualisten – wie die beiden schnellen Dribbler Sofiane Boufal und Azzedine Ounahi sowie Mittelstürmer Youssef En-Nesyri – „vielleicht nicht die beste Mannschaft des Turniers. Aber wir sind es, wenn es um das Herz, den Willen und die Taktik geht“, sagte Regragui.
Ein ähnlicher Satz könnte auch für den Trainer gelten. Seine Stärke ist es, die Spieler individuell abzuholen. Regragui versteht es, Stars wie Ziyech und Hakimi klarzumachen, dass sie eine besondere Verantwortung tragen. „In der Vergangenheit haben einige Trainer gesagt, dass alle Spieler gleich behandelt werden. Hakim Ziyech ist aber nicht irgendein Spieler“, sagte der Coach.
Für Regregui gehe es nun darum, dass die Gemeinschaft, die er geformt hat, erneut Geschichte schreibt. „Für unsere Brüder in Afrika“, wie er sagte. Das gilt jedoch auch für die Fans, die in Europa leben und besonders für die, die aus schwierigen Verhältnissen kommen. „Ich bin stolz auf meinen Werdegang“, sagte Regregui. Er hoffe, dass er eine „Inspiration“ für andere Menschen in sozialen Brennpunkten sei.
Zum Spiel im Al-Bait Stadion nördlich von Doha werden Tausende marokkanische Fans erwartet, die extra einfliegen. Gemeinsam mit den Anhängern aus Brasilien und Argentinien die „besten der Welt“, sagte Regragui, der die Außenseiterrolle zwar annimmt. Im Grunde ist sie ihm aber egal. „Wir sind hungrig, ich weiß nicht, ob das ausreicht, aber ich hoffe es. Wir wollen Geschichte schreiben und Afrika an die Weltspitze setzen.“