Die Fußball-Legenden kamen in die Kabine, um ihren Nachfolgern zu gratulieren. Lilian Thuram war da, Claude Makélélé auch, die beiden Ex-Nationalspieler, die mit dem aktuellen Trainer Didier Deschamps ihr Land Ende der 1990er-Jahre in die Weltspitze gehievt hatten. Und die Ehrerbietung war ja durchaus passend. Zwei Altstars als Gratulanten für den ältesten Spieler der Équipe Tricolore bei der WM in Katar: Olivier Giroud. „Es wurde gesungen und getanzt in der Kabine“, berichtete der 36 Jahre alte Matchwinner nach dem Spiel. „Es ist wunderbar, diese Gefühle in der Umkleide zu sehen und zu erleben.“
Dass Frankreich den Traum von einer Titelverteidigung nicht jäh hatte beenden müssen, hing vor allem mit dem bulligen Mittelstürmer zusammen. In einem Viertelfinale auf Augenhöhe gegen England war es der Profi vom AC Mailand, der das Spiel letztlich zugunsten der Mannen von Deschamps entschied. Nach den Treffern von Aurélien Tchouaméni zum 1:0 (17.) und Harry Kane zum Ausgleich (54.) veredelte Giroud eine präzise Flanke von Antoine Griezmann mit einem wuchtigen Kopfball ins linke obere Toreck zum Siegtreffer (78.). Er, den sie in Frankreich wegen seiner überschaubaren technischen Fähigkeiten lange Zeit nie richtig anerkannt hatten, erhielt nun Sprechchöre von den französischen Fans unter den 68.895 Zuschauern im Al-Bayt-Stadion vor den Toren Dohas.
„Wir haben super gut gearbeitet. Das hat mich an das Spiel gegen Belgien 2018 erinnert. Am Ende waren wir die Glücklichen. Das ist super für unsere Mannschaft“, sagte Giroud. „Das war ein dickes Ding. Wir wussten, was diese Generation von jungen englischen Talenten draufhat. Wir hatten die richtige Mentalität. Ich bin sehr stolz auf dieses Team.“
Giroud ist jetzt der beste Torschützen seines Landes
Das kleine Märchen von einer wundersamen Wandlung in der öffentlichen Wahrnehmung hängt eng mit dem Verletzungspech des etatmäßigen Stürmers zusammen: Karim Benzema fiel während der Vorbereitung auf die Weltmeisterschaft mit einer Muskelverletzung aus und reiste vom Turnier in Katar ab. Während sich ob seiner raschen und erfolgreichen Rekonvaleszenz in der medizinischen Abteilung seines Heimatklubs Real Madrid hartnäckig Gerüchte um eine Rückkehr in der K.o.-Runde hielten, nutzte Giroud seine Startelfeinsätze, um Werbung in eigener Sache zu betreiben. Ihm gelangen nicht nur beachtliche vier WM-Tore, sondern als Zielspieler, der Bälle festmacht und dann für die nachrückende Linie um Superstar Kylian Mbappé ablegt, avancierte er zum enorm wichtigen Faktor im Spiel der Franzosen. Und ganz nebenbei setzte er sich mit 53 Treffern in 117 Länderspielen auch noch an die Spitze der besten Torschützen seines Landes.
Dabei musste er sich auch gegen Vorbehalte aus den eigenen Reihen durchsetzen. Denn insbesondere Benzema hielt lange Zeit wenig von seinem Landsmann: „Man vergleicht die Formel 1 nicht mit Kartfahren“, hatte er 2020 harsch über Giroud geurteilt. Was wiederum der Gescholtene recht charmant konterte: „Ich bin ein Kart, aber mit einem WM-Titel.“ Anders als Benzema, der wegen einer Beteiligung an einem Erpressungsversuch gegen Mitspieler Mathieu Valbuena beim Triumph 2018 nach einer Suspendierung fehlte, gehörte Giroud zum Kader, der schließlich in Russland reüssierte. Und in den vergangenen Tagen, so erzählt es Giroud, habe er wieder den Geist der Titelkämpfe von vor vier Jahren gespürt. „Das erinnert mich an die Mentalität und die Hingabe von 2018. Diese Gruppe verdient es, wieder so weit zu kommen.“
Zwei Siege fehlen Giroud und seinen Kollegen noch, um als erster Weltmeister seit Brasilien 1962 den WM-Titel zum zweiten Mal in Folge zu gewinnen. Mbappé spricht von einem „absoluten Traum“, Staatspräsident Emmanuel Macron hat sich für das Duell mit Marokko am Mittwoch (20 Uhr) in Doha angekündigt. „Es gibt nicht viele, die behaupten können, dass sie Marokko im Halbfinale erwartet hätten“, sagte Trainer Deschamps mit Blick auf das Duell. „Sie verdienen es, da zu stehen, wo sie stehen. Es ist ein historischer Moment für sie. Wir haben die Qualität in der Mannschaft, aber du brauchst auch die richtige Einstellung.“