Manchmal unterbricht er den geschriebenen Text seiner Schillerrede, den er im Deutschen Literaturarchiv Marbach vorliest. Die – wie in seinen Romanen – klar strukturierten Sätze trägt der 74-jährige Abdulrazak Gurnah in meist ruhigem, ernstem, doch gar nicht monotonem Englisch vor.
Als Gurnah vom Manuskript aufblickt, das auf der Marbacher Schillerhöhe versammelte Publikum anblickt und erzählt, als Jugendliche hätten er und seine Freunde jenen Gänsemarsch nachgeahmt, den die postrevolutionären Streitkräfte Sansibars, wo er 1948 geboren wurde, nach 1964 von den Sowjets übernahmen, ist so ein Moment. In diesem Alter habe man eben keine Ahnung gehabt von der Bedeutung militärischen Marschierens.
Auch im letzten Drittel seiner Rede geschieht das – Gurnah unterbricht seine Rede, nachdem er über die vielen Toten in Deutsch-Ostafrika gesprochen hat. In seiner Stimme ist jetzt Betroffenheit zu vernehmen. Es geht um Hunderttausende, oft sind sie verhungert, als Folge deutscher Kolonialpolitik.
Die Gräueltaten an den Herero und Nama in Südwestafrika seien zuletzt in Deutschland zunehmend diskutiert worden, fährt Gurnah, der 1968 als Flüchtling nach Großbritannien kam, dann fort. Auch das Leid, das den Menschen in Ostafrika zugefügt wurde, dürfe nicht verharmlost, nicht vergessen werden, mahnt er.
Aber, wie man gerade gehört habe, sei das kein Zustand, der ewig gelten müsse, blickt Gurnah dann wieder von seinem Manuskript auf. Er wiederholt diese Sätze, nachdem er gefordert hat, die historische Verantwortung für diese Taten müsse anerkannt werden.
Gurnah bezieht sich auf die Grußworte der Grünen-Politikerin Petra Olschowski, baden-württembergische Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst. Sie hatte zuvor nicht nur die Notwendigkeit einer weiteren Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte betont, sondern auch den Besuch von Bundespräsident Frank Walter Steinmeier in Tansania Ende Oktober angesprochen, 118 Jahre nach dem Maji-Maji-Aufstand. „Mir ist es wichtig, dass wir dieses dunkle Kapitel aufarbeiten, dass wir es gemeinsam aufarbeiten“, hatte Steinmeier nach einem Treffen mit der tansanischen Präsidentin Samia Suluhu Hassan in Daressalam gesagt.
Ohnehin war es an der Vertreterin der Politik, an diesem Sonntagmorgen auf die schockierenden Aktualitäten aufmerksam zu machen – und auch auf die kalendarische Nähe zwischen Friedrich Schillers Geburtstag am 10. November 1759 und der sogenannten Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938, 179 Jahre später.
Olschowski sprach von der „schrecklichen Katastrophe“ des Hamas-Angriffs auf Israel und über die „Kriegshandlungen im Nahen Osten, die uns alle noch immer tief verstörten“. Hörbar geschult an neueren vergangenheitspolitischen Theorien einer „multiperspektivischen Erinnerung“ betonte die Ministerin auch, Konflikte dieser Art seien nicht durch ein „einziges Narrativ“ verstehbar.
Wege der Geschichte
Hätte man sich, angesichts der Weltlage, auch angesichts eines von manchen als Kolonialkrieg verstandenen russischen Überfalls auf die Ukraine, ebenfalls von Abdulrazak Gurnah eine andere Rede gewünscht an diesem Novembertag? Hätte Gurnah etwas sagen sollen zur immer schriller werdenden, oftmals sicher auch berechtigten Kritik an postkolonialem Denken, gerade jetzt, mit Blick auf den Krieg in Israel und im Gaza-Streifen?
Mit dem Nobelpreis geehrt wurde Gurnah dafür, „kompromisslos und einfühlsam“ auf die Folgen des Kolonialismus hingewiesen zu haben, genauso wie auf das Schicksal von Flüchtlingen. An der University of Kent in Canterbury hatte Gurnah bis zu seiner Emeritierung 2017 eine Professur für Englisch und postkoloniale Literaturen inne.
Hätte man eine Erklärung erwarten sollen dafür, dass Gurnah, wie neben ihm auch die Nobelpreisträgerinnen Annie Ernaux und Olga Tokarczuk, in einem offenen Brief gegen die Verschiebung einer Preisverleihung an eine palästinensische Autorin, deren Roman einige Kritiker als israelfeindlich ansehen, auf der Frankfurter Buchmesse protestiert hat?
Nein. Kritik daran, etwas nicht zu sagen, was eigentlich erwartet wird, hat Konjunktur. Allzu oft hört man ein solches Argumentum e silentio, wie es die Logik als Fehlschluss kennt, in erregten Zeiten wie diesen. Nicht nur deshalb ist es folgerichtig, dass ein Autor von Abdulrazak Gurnahs Format bei seinem ureigenen Thema blieb, an diesem Sonntag in Schillers Geburtsort Marbach.
Dass er mit seiner Schilderung, wie er als Jugendlicher in einer von der DDR finanzierten Bibliothek auf Sansibar Friedrich Schillers Gedichte für sich entdeckte und später in der Bibliothek des diplomatischen Vertreters der USA, dem man CIA-Machenschaften nachsagte, auf Ralph Waldo Emerson stieß, sagt mehr über die verschlungenen, das Menschliche mit dem Machtpolitischen verbindenden Wege der Geschichte aus als jedes Statement zur unmittelbaren Gegenwart.