Wu’er Kaixi war einer der Studentenanführer der chinesischen Demokratiebewegung, die 1989 im Tian’anmen-Massaker niedergeschlagen wurde. Heute lebt er im Exil in Taiwan, das China als Teil seines Territoriums betrachtet und immer mehr bedroht. WELT traf Wu’er in einem Café nahe der Chiang-Kai-shek-Gedächtnishalle in Taipei.
WELT: Sie führten 1989 als Student die Demokratieproteste in China mit an, die dann gewaltsam niedergeschlagen wurden. Woher nahmen sie damals den Mut gegen das Regime aufzubegehren?
Wu’er Kaixi: Es war damals ein anderes China als heute. Das Land öffnete sich. Wir nahmen an, die Kommunistische Partei und wir Studenten wollten das Gleiche: Freiheit und Reformen. Wir wollten der Politik nur einen Schubs geben. Doch als wir das taten, war ihre Antwort blutig. Sie akzeptierten keine Infragestellung ihrer Macht. Was mich heute noch frustriert: Unsere Demokratiebewegung steht in einer Linie mit den Ereignissen, die das Ende des Kalten Kriegs anstießen. In Deutschland schoss das kommunistische Regime 1989 nicht mehr auf die Menschen, die für ihre Freiheit kämpften. In China hingegen schon. Wir haben verloren. Heute ist China das größte totalitäre Regime der neueren Weltgeschichte – ermöglicht durch den Westen.
WELT: Wie meinen Sie das?
Wu’er: Als der Kalte Krieg endete, wurde die Welt demokratischer. Doch anstatt China unter Druck zu setzen sich zu ändern, beschlossen die meisten Demokratien die Vorteile des marktwirtschaftlichen Kraftwerks China zu nutzen. Sie verschrieben sich einer langfristigen, falschen China-Politik, die China besänftigte. Dadurch gewann die Kommunistische Partei an Selbstbewusstsein. So sehr, dass sie ein nationales Sicherheitsgesetz in Hongkong einführte und Millionen Uiguren in Konzentrationslager sperrte. Sie wussten, dass sie damit durchkommen. Dass westliche Staatschefs zwar ein, zwei Menschenrechtsfragen stellen, die Antwort aber keine Auswirkung auf Handelsbeziehungen hat.
WELT: Im vergangenen November forderten Menschen in China ein Ende der drakonischen Null-Covid-Maßnahmen und den Rücktritt Xi Jinpings, indem sie weiße Blätter Papier in die Höhe hielten, heute die „A4-Bewegung“ genannt. Gibt es Ihnen Hoffnung, dass Chinesen auch heute gegen die Unterdrückung ihrer Regierung ankämpfen, ähnlich wie 1989?
Wu’er: Die A4-Bewegung hat gezeigt, dass der Hunger nach Freiheit in der menschlichen Natur liegt. Jeder will Freiheit, egal ob Asiaten, Araber oder Europäer. Natürlich macht mir das Hoffnung. Aber habe ich erwartet, dass die A4-Bewegung China verändern wird? Nein. Ich denke aber, diese Bewegung wird die erste von vielen Bewegungen sein.
WELT: Wie viel Hoffnung haben Sie, dass China eines Tages demokratisch sein wird?
Wu’er: China ist das mächtigste totalitäre Regime unserer Zeit. Hinzu kommt die technologische Totalüberwachung seiner Bürger. Aber der Erfolg der Kommunistischen Partei hängt von einem Deal mit dem chinesischen Volk ab: Für totale politische Unterwerfung bekommen die Menschen einen gewissen Wohlstand. Die Partei und die 200 mächtigsten Familien im Land streichen immer noch 50 Prozent des Wohlstands ein, aber der Rest wird an das Volk verteilt, solange es sich nicht politisch einmischt. Dieser Deal wird eines Tages auslaufen, wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst.
WELT: Und das ist gerade der Fall. Die Wirtschaft leidet, die Immobilienbranche auch, die Jugendarbeitslosigkeit steht bei 20 Prozent.
Wu’er: Ich glaube, die Zahl liegt bei 40 Prozent, wenn nicht höher. Das bedeutet, dass etwa die Hälfte der jungen Leute arbeitslos ist.
WELT: Denken Sie, dass dieser Missstand der Nährboden einer demokratischen Bewegung sein kann?
Wu’er: Ich hoffe es. Aber der Großteil der Chinesen ist zynisch. Wer aufbegehrt wird sofort eingesperrt oder verschwindet einfach. Sogar hochrangige Politiker und Personen der Öffentlichkeit sind davor nicht sicher, also schon gar nicht einfache Bürger. Ich denke, es ist die Aufgabe des Westens, die Veränderung anzustoßen, von oben anstatt von unten also. Die von den USA angeführte westliche Demokratie hat uns verraten. Sie hat ermöglicht, dass unsere Demokratie unterdrückt wurde.
WELT: Sie kritisieren seit Jahren den ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger, der den Begriff der „strategischen Zweideutigkeit“ gegenüber China prägte.
Wu’er: Ja, ich setze mich für eine klare Abschreckungspolitik ein – hinsichtlich Taiwans und allen autoritären Regimes. Auch gegenüber Russland und seinem Angriff auf die Ukraine hätte das geholfen. Politiker wie Kissinger und Senior Bush gaben sich dem naiven Glauben hin, dass Handel mit China eine Mittelschicht hervorbringt, auf die eine Zivilgesellschaft und Demokratie folgen. Auch nahm man an, dass Menschenrechtsverletzungen nur innerhalb Chinas stattfinden würden. Doch dann verloren wir Hongkong. Wir, die freie Welt, haben diese Stadt an China verloren. Und Europa, Deutschland vorn mit dabei, folgte diesen falschen Annahmen.
WELT: Tatsächlich ist der deutsche Glaube „Wandel durch Handel“ was China angeht, gescheitert. Dafür hat Deutschland jetzt eine neue China-Strategie, die kritischer mit der Volksrepublik umgehen soll.
Wu’er: Das begrüße ich sehr. Doch so weit wie die USA ist Deutschland noch nicht gegangen. Die USA konfrontieren China nun direkt. Das ist gut und richtig. Deutschland zögert noch und die Politik ist gespalten. In den USA sind sich Demokraten und Republikaner einig, dass die Zeit gekommen ist, sich von China abzugrenzen. Sie zahlen lieber jetzt den Preis als später. Deutschland und Europa müssen akzeptieren, dass sie den USA in dieser Entscheidung folgen müssen, genauso wie sie damals der Beschwichtigungspolitik gefolgt sind. Europa kann meiner Meinung nach nicht unabhängig von den USA agieren.
WELT: Sie gehören zur Minderheit der Uiguren. Ihre Eltern leben noch in China und sie haben sie seit 1989 nicht gesehen. Wie geht es ihnen?
Wu’er: Sie werden nicht jünger, sie werden auch nicht gesünder. Und da sie Uiguren sind, werden sie sehr genau beobachtet. Aber meine Eltern sind über 80 Jahre alt. Sie werden nicht ins Lager geschickt. Ich habe vier Mal versucht, nach China einzureisen, mich auszuliefern, weil ich sie noch einmal sehen will, auch wenn es hinter Gittern ist. Ich bin Dissident und will mich meinem Gegner stellen. Doch das chinesische Regime ließ mich nie einreisen, es scheut den Dialog, obwohl ich immer noch einer der meistgesuchten Dissidenten bin. Das zeigt auch, wie viel Angst sie vor dem Gedanken der Freiheit haben.