Um 20.18 Uhr explodiert im Nordhäuser Ratssaal der Jubel. Die Unterstützer von Kai Buchmann stürmen, einer mit Riesen-„FCK AFD“-Schild, auf ihren Kandidaten zu. Mit zehn Prozentpunkten Vorsprung siegt Buchmann über AfD-Herausforderer Jörg Prophet. 54,9 Prozent für Buchmann gegen 45,1 für Prophet, so lautete das Endergebnis.
Letzterer hatte schon fast 50 Minuten vorher seine Niederlage zugegeben, noch bevor es offiziell feststand, dass die AfD ihren Siegeszug im Osten an diesem Abend nicht fortsetzen würde. Kai Buchmann, parteilos, bleibt für weitere sechs Jahre Oberbürgermeister der 40.000-Einwohner-Stadt in Nordthüringen.
Dabei war Prophet mit 42 Prozent im ersten Durchgang in die Wahl gestartet, Buchmann mit nur 23. Nachdem aber einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, dass Prophet rechtsextreme, geschichtsrevisionistische Schriften veröffentlicht, die Opfer von NS-Terror und die Toten alliierter Bombenangriffe gleichgesetzt und die deutsche Erinnerungskultur als „Schuldkult“ bezeichnet hatte, ging offenbar ein Ruck durch Nordhausen. Am Samstag vor der Wahl kamen 800 Bürger zum spontanen Stadtfest vorm Rathaus zusammen, Institutionen wie Hochschule und die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, die in der Stadt liegt, hatten mobilisiert für die Wahl Buchmanns.
Der war vor sechs Jahren als Anti-Establishment-Kandidat angetreten, gewann damals mit zwei Dritteln der Stimmen gegen die CDU-Kandidatin. Vor der aktuellen Wahl war Buchmann vier Monate suspendiert gewesen; seine Stellvertreterin hatte Mobbing-Vorwürfe gegen ihn erhoben. Ihr Parteifreund, der SPD-Landrat im Kreis, enthob Buchmann daraufhin seines Amtes. Ein Verwaltungsgericht stellte zwar Dienstvergehen fest, die aber nicht zur Amtsenthebung genügten, und kassierte die Suspendierung schließlich.
Und so war Buchmann wieder im Amt, seine Stellvertreterin zog nicht wie lange gedacht als Oberbürgermeisterin in den Wahlkampf. Wie vor sechs Jahren bestritt Buchmann seinen Wahlkampf allein, wenn man es überhaupt so nennen kann: Wahlkampftermine gab es nicht, seine wenigen Plakate gestaltete er selbst. Ihm habe neben dem Amt schlicht die Zeit gefehlt, sagt er.
Der Wahlabend, den auch Journalisten aus Frankreich und Israel begleitet hatten, endet nun so, wie alles begann: Buchmann allein.
„Das hat uns erschüttert, wir sind AfD-Gegner“
Um etwa Viertel nach sieben sitzt er da plötzlich, rechts neben der Leinwand im Ratssaal, auf der die Stimmergebnisse einlaufen, auf einem Stuhl, seinen Blick angespannt auf die Zahlen gerichtet; vorher war er immer wieder mal durch den Saal gelaufen. Keine Mitarbeiter, niemand aus seinem privaten Umfeld um ihn herum, nach wenigen Minuten dafür: neun Kameras und Mikrofone vor dem Gesicht. Buchmann fragt: „Können Sie mich kurz aufklären, wie das jetzt abläuft? Ich habe das noch nie gemacht.“
Danach noch fast eine Stunde Anspannung, Buchmann atmet mehrmals tief durch. Später vor dem Gebäude, nach der Wahl, wird er sagen: „Ich fühle große Dankbarkeit.“ Ihn umringen Bürger mit Tränen in den Augen, sie fallen ihm um den Hals, eine schenkt ihm Blumen. Er sagt nur: „Die, die hier sind, haben jetzt eine gute Zeit. Die anderen nicht.“
Die Bürger dieser Stadt sind, Buchmann-Wahlsieg hin oder her, gespalten zwischen AfD-Gegnern und Befürwortern. Einige Stunden vor Bekanntgabe der Wahl trafen sie in den Wahllokalen aufeinander, zum Beispiel in den Stadtwerken der Robert-Blum-Straße im Nordhäuser Industriegebiet. Prophet holte im ersten Durchgang in jedem Wahllokal starke Ergebnisse, nirgendwo lag er unter 37 Prozent. In der Blum-Straße aber schnitt er am stärksten ab: 66 Prozent der Stimmen gewann er dort.
„Das hat uns erschüttert, wir sind AfD-Gegner“, sagt eine 47-Jährige. Sie, ihr gleichalterige Mann und ihre 17-jährige Tochter wollen anonym bleiben, sie haben gerade das Wahllokal verlassen. Der Vater ist selbstständiger Zahntechniker, die Mutter arbeitet für ihn. Eine Erklärung für die AfD-Stärke haben sie nicht. Die Frau sagt: Deren Wähler „laufen eben in der Masse mit“.
Dann winkt sie einer alten Dame zu, die gerade das Wahllokal verlässt: „Hallo, wir kennen uns doch!“ Ihre Mutter und die alte Dame hätten zusammen in einem Krankenhauszimmer gelegen, sagt sie. Die alte Dame scheint sich erst nicht zu erinnern, die junge Familie fährt in ihrem Passat davon. Die alte Dame, 69, will anonym bleiben, sagt: Sie habe die AfD gewählt, weil sie „einfach was anderes haben“ möchte.
Konkretisieren kann sie das nicht. Mag sie den AfD-Kandidaten Prophet? „Ich weiß gar nicht, wie der heißt. Ich mache einfach mein Kreuz“, sagt sie. Ihr Lebensgefährte könne das besser erklären, er sitzt um die Ecke auf einer Bank. Auch er bleibt anonym. Die Wahlentscheidung für die AfD habe er gefällt, weil „viele Jahre ans uns vorbei regiert wird.“ Der 61-Jährige ist Lohner, angestellter Landwirt, spritzt Chemikalien aufs Feld und könne wegen einer Knieverletzung gerade nicht arbeiten. Das sei noch ein Wahlgrund: das Gesundheitssystem. Auf Termine müsse er nur „warten, warten, warten“.
„Früher haben die sich auch mal gehauen“
Die beiden leben direkt um die Ecke in einem fünfstöckigen Plattenbau mit weißen Wellblechbalkonen. Auf dem Briefkasten eines Aufgangs sind fast alle Namen abgekratzt. Die Vornamen, die stehen geblieben sind: Dayan, Milad, Ahmed, Mohammed, Ahmad Mohammed, Mohamed, Amin, Bashar, Ali, Ahmed.
Die ältere Dame sagt, sie und eine andere Frau seien die einzigen, die von den Erstbezüglern übrig geblieben seien, 40 Jahre wohne sie schon in der Platte. Sie und ihr Lebensgefährte sagen: Die Migranten seien hier im Wahllokal in der Robert-Blum-Straße noch ein Grund für den AfD-Erfolg gewesen. „Früher gab es große Probleme, die haben sich auch mal gehauen, vor neun Jahren gab es Monate, da war die Polizei 60- bis 70-mal da im Monat.“
Seine Partnerin sagt: „Wir haben auch einen guten Freund gefunden, einen Iraker, ein prima Nachbar. Es sind nicht alle schlecht, es gibt ein paar Rabauken – wie bei uns auch!“, sagt sie. Sie und ihr Partner lachen. Der Iraker habe einen Imbiss eröffnet in Nordhausen, manchmal gingen sie dort essen. Sie sind sich aber einig, trotz solcher Erfahrungen: Es seien zu viele Migranten in ihrer Stadt.
Die Probleme in Nordhausen
In Nordhausen sprechen Passanten häufiger russisch oder ukrainisch. Die Stadt schrumpft seit den 1990ern konstant, nur die vergangenen Jahre wachsender Migration haben die Abwärtskurve kurz nach oben zucken lassen. Im Frühjahr meldeten Medien, der Landkreis sei mit Migranten voll ausgelastet; in der Stadt selbst werden Ukrainer und Asylbewerber dezentral in Wohnungen untergebracht, 210 miete der Kreis ingesamt.
Dazu kommt die typische Problemlage Ost: die Arbeitslosigkeit im Kreis. Sie liegt bei 8,2 Prozent und damit über dem Bundesdurchschnitt. Es gibt wenig Junge, 6415 Unter-18-Jährige stehen gegen 14.559 über 60. Und dann noch der Männerüberschuss in der Gruppe der 25- bis 30-Jährigen: Rein rechnerisch gehen 283 dieser Männer leer aus bei der Partnersuche.
Dafür kosten 105 Quadratmeter auf vier Zimmern mit Fahrstuhl im Stadtzentrum 844 Euro kalt. Es gibt eine Mittelalter-Altstadt, drei Museen, Theater, Kino, Einkaufspassage, öffentliche Kunst und gepflegte Gehwege. Draußen vor der Stadt: ein noch verwaistes Industriegebiet, das laut Lokalpresse aber vielleicht bald bezogen werden könnte durch eine Batterierecyclingfabrik von Northvolt. Dazu kommt eine Hochschule mit 25 Prozent Ausländeranteil unter den Studenten, wichtige Köpfe, die die schwache Demografie der Stadt ausbessern könnten.
Mit Karl Popper gegen die AfD
Vor der Wahl hatte die Hochschule große Sorgen: Was würde aus ihrer Reputation, dem Fachkräftenachwuchs? Diese Befürchtungen sind jetzt erst einmal ausgeräumt. Die AfD-kritische Zivilgesellschaft hat sich vorerst durchgesetzt. Besonders auch in der Gedenkstätte KZ Mittelbau-Dora gab es Sorgen. Deren Stiftungsdirektor, Jens-Christian Wagner, sagte nach der Wahl: Trotz des ausgebliebenen AfD-Wahlsiegs zeigten „die vielen Stimmen für den offen geschichtsrevisionistisch auftretenden AfD-Kandidaten, dass die aufgeklärte Erinnerungskultur als Grundkonsens unserer Demokratie akut gefährdet ist“.
An ihrer Rolandstatue am Rathaus hatten Organisatoren des Demokratiefests am Tag vor der Wahl kurzerhand ein Plakat vor dessen Schild geklebt, ein Karl-Popper-Zitat: „Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz nicht zu tolerieren.“
Wird so ein Ansatz helfen, die Stadt zu befrieden? Kai Buchmann jedenfalls sendet nach seinem Wahlerfolg eine Botschaft, die Lager zusammenführen zu wollen. „Ich hoffe, dass wir ab morgen weiter gut zusammenarbeiten für die Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt.“
Um kurz nach 21 Uhr löst sich das spontane Fest der AfD-Gegner auf. Buchmann war da schon verschwunden, vorher hatte ihm eine Bürgerin noch gerührt einen kleinen behauenen Speckstein in die Hand gedrückt. Der habe sie ihr Leben lang begleitet, sagt sie. Was ist drauf? „Ein Gesicht“, sagt Buchmann, „ob es lächelt oder traurig schaut, kann man gerade noch nicht genau sehen.“