Wednesday, September 27, 2023

Castorfs „Boris Godunow“ in Hamburg: Die zwei Zustände Russlands

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„Boga njet!“, also „Kein Gott!“ steht unter dem Kosmonauten im roten CCCP-Anzug. Er blickt umher im dunklen Weltall, nur ein paar bunte Sterne umgeben ihn in der Leere, während unter ihm die Zwiebeltürme der russisch-orthodoxen Gotteshäuser versinken. Obwohl das Bild, ein Plakat aus der Sowjetunion von 1975, die strahlende Hoffnung zeigt, dass durch Wissenschaft der Aberglauben überwunden wird, geht eine große Einsamkeit und Trauer von dem lächelnden Raumfahrer aus, die auch den verzweifelten Zaren Boris Godunow umgibt. Alle Welt hat sich gegen ihn verschworen. Da hilft ihm auch kein höheres Wesen mehr.

In sieben Bildern zeigt Modest Mussorgskys den Aufstieg und Fall von Godunow. Am Anfang ruft das Volk – nicht ganz freiwillig – nach einem neuen Zaren, der am Ende zerrüttet von Verschwörungstheorien und einer realen Verschwörung der Bojaren stirbt, außerdem fällt ein „falscher Zar“ aus Polen und Litauen in das Reich ein. Und eine Hungersnot kommt auch noch dazu. Anders als bei dem Raumfahrer verschwindet das Alte nicht, sondern kommt wieder: Massenweise Ikonen werden angeschleppt und Kalaschnikows ausgeteilt. Es sind die Gespenster der Vergangenheit, die Godunow vertreiben wollte. Doch sie holen ihn ein.

Frank Castorf inszeniert Mussorgskys „Boris Godunow“ an der Staatsoper Hamburg als eine Expedition ins Herz der Finsternis, stromaufwärts auf dem mächtigen Fluss der Geschichte – bis zum Ursprung des russischen Zarismus. Das bürstet Mussorgski gegen den Strich: Als der Komponist 1869 seine erste Fassung von „Boris Godunow“ fertigstellt, will er das als Beitrag zu einer neuen russischen Nationalkultur verstanden wissen. Sein Blick zurück auf die „Zeit der Wirren“ um 1600 ist einer aus dem 19. Jahrhundert, als die damals an die Macht gekommenen Romanows noch immer die Zaren stellen. Erst 1917 wird das beendet.

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Rom und Russland

Was Castorf aus Mussorgsky macht – eine kritische Befragung –, ist bei Mussorgsky zwar angelegt, aber kaum beabsichtigt gewesen. Wahrscheinlicher ist, dass er der Romanow-Herrschaft huldigen wollte, die aus den Kriegen verschiedener Warlords und Fürsten – den Bojaren – ein multiethnisches Großreich schufen. Und dass er in der Umbruchszeit des 19. Jahrhunderts seinen Zeitgenossen einen Wink geben wollte, was dem Land Schlimmeres als ein brutaler Zar droht. Als Vorlage nahm Mussorgski das Drama „Boris Godunow“ von Alexander Puschkin und Nikolai Karamsins „Geschichte des russischen Reiches“.

Folgt man Mussorgsky – und seinen Verbündeten im Geiste wie Puschkin – gibt es in der russischen Politik nur zwei Aggregatzustände: Wirren und Ordnung, Schlacht der Bojaren oder Zarismus. Castorf und seine Truppe illustrieren das mit „Sowjetmacht plus Elektrifizierung“ des 20. Jahrhunderts: Auf der Drehbühne von Aleksandar Denić wird eine kleine orthodoxe Kirche von einem Strommast überragt, dessen Kabel zum modernistischen Sowjetbau mit Stalin-Büste führen, die Rückseite sind ein U-Boot und ein Billardsalon mit Politbürocharme. Bei den Kostümen von Adriana Braga Peretzki treffen glänzende Priestergewänder auf Sowjetuniformen.

Schaut Mussorgsky zu seiner Zeit auf den Beginn der Zarenherrschaft, so interessiert Castorf das, was nach dem Ende der Zaren kommt – und fragt, wie viel Zarismus in der russischen Politik bis heute zu finden ist. Die Antwort: eine Menge. Und obwohl es keinerlei direkten Anspielungen auf Putin gibt, heißt das nicht, dass es nicht um Putin geht. So kann man in dem ästhetischen Eklektizismus auf der Bühne mit Prozessions-, Russland- und Sowjetfahnen den ideologischen Eklektizismus des Putinismus gespiegelt sehen, der sich auf Iwan IV. – „den Schrecklichen“ –, Stalin und die Kirche gleichermaßen beruft. Es sind die Säulen der staatlichen Ordnung gegen die Wirren des Bürgerkriegs und Angriffe von außen.

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Wie erklärt man Putin? Man kann ihn als irre und wahnsinnig bezeichnen, ohne sich nur im Entferntesten dafür zu interessieren, welcher Grad an Irrsinn heute jeder Politik eigen ist. Man kann – auch sehr beliebt – den Imperialismus für eine allem Russischen vorbehaltene Eigenheit halten, als ob es hierbei um einen moralischen und nicht einen gesellschaftsanalytischen Begriff handeln würde. Weder die individuelle noch die kollektive Seele sind erschöpfende Erklärungen. Castorf schlägt etwas anderes vor: Archetypen der russischen Politik, die beständiger als die rasanten Kostümwechsel der Geschichte sind.

Die Perspektive der „Longue durée“ kann manches schärfer fassen als der privative Blick durchs Schlüsselloch oder politische Großschlagworte. Der historische Boris Godunow kam aus der von Iwan IV. gegründeten Opritschnina, ein Geheimdienst zur Schwächung der Opposition. Nach dem Tod des Zaren setzte Godunow sich an die Spitze einer Gruppe von Bojaren, heute würde man sagen: Oligarchen. Von der Opritschnina geht es über den KGB bis zum SFB. Und Putins Aufstieg war auch eine „Zeit der Wirren“, wie Adam Curtis eindrücklich in der Dokumentation aus den BBC-Archiven „TraumaZone – Russia 1985–1999“ gezeigt hat.

So dreht sich die Bühne der russischen Geschichte immer weiter, an die Stelle der Zwiebelturmkirche tritt das Sowjetdenkmal „Arbeiter und Kolchosbäuerin“ von 1937, das bis heute in Moskau steht – ein junges Paar, nach vorne stürmend und der Geschichte zugewandt, Hammer und Sichel in die Höhe reckend. Eine Drehung weiter steht an der gleichen Stelle eine monumentale Coca-Cola-Flasche mit einem Strohhalm in den russischen Nationalfarben. Kein Gott? Mag sein. Für den nationalen Mythos, eine Form der politischen Theologie, sind Gottesbeweise unerheblich. Und die Formen sind austauschbar.

Nationaler Mythos

Am nationalen Mythos hat Mussorgsky eifrig mitgewirkt, schon in den ersten Takten lehnt sich seine Musik an russische Volkslieder an. Weit weniger pompös als die italienischen Opern des 19. Jahrhunderts oder Richard Wagner ist „Boris Godunow“ mit den deutlichen Bezügen auf Volks- und Kirchenmusik eine Schlichtheit zu eigen, die auch eine musikalische Unabhängigkeit von der Konkurrenz westwärts für sich reklamierte. Doch die Zeitgenossen zeigen sich zunächst reserviert, bemängelt wird unter anderem eine fehlende Liebesgeschichte. Mussorgsky revidiert den „Boris Godunow“ daraufhin, später kommt die Oper durch Fassungen von Rimski-Korsakow und Schostakowitsch zu Weltruhm.

In Hamburg bringt man unter der musikalischen Leitung von Generalmusikdirektor Kent Nagano die erste Fassung auf die Bühne, den „Ur-Boris“. Musikalisch mag diese Fassung weniger ausgefeilt sein, doch sie passt besser zum Gegenstand: In der Politik gibt es keine Liebe. Obwohl mit dem großen Chor und zusätzlichem Kinderchor der Anspruch des Volkstümlichen unterstrichen wird, öffnet sich gelegentlich ein doppelter Boden: So geht es in der Musik betont heiter und beschwingt zu, während von Feldzügen gegen die Tataren mit Zehntausenden Toten berichtet wird. Keine Nationalkultur ohne solche Abgründe.

Von Protesten wie gegen Anna Netrebko an der Berliner Staatsoper ist in Hamburg keine Spur. Und sie wären angesichts der Tiefe, mit der Castorf die Nationaloper „Boris Godunow“ und die russische Geschichte seziert, auch nicht berechtigt. Ganz abgesehen von der irrigen Idee einer völligen kulturellen Entkopplung, die seit dem Krieg in der Ukraine kursiert. Für seine Verhältnisse ist Castorf sehr freundlich zum Publikum: Keine Fremdtexte, keine Nacktheit, zurückhaltender Kameraeinsatz. Und das Publikum erwidert diese Freundlichkeiten, als sich der Regisseur im weißen Anzug den kräftigen Applaus für diesen großen Opernabend abholt.

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