Wednesday, April 24, 2024

Exilanten im Nationalsozialismus: Doku über den Künstler Wilhelm Ernst Beckmann

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Arthur Björgvin Bollason, 71, kennt sich in Island aus wie die Gebrüder Grimm im Reinhardswald. Nach einem Literatur- und Philosophiestudium in Freiburg fing er als Reiseleiter an, wurde dann Reporter beim isländischen Radio und Fernsehen und hat die wichtigen isländischen Schriftsteller seiner Generation porträtiert. Sein Spezialgebiet ist die Njals-Saga, die Geschichte einer blutigen Fehde zwischen zwei ehemals befreundeten Familien, die längste aller 40 Isländer-Sagas, der Bibel der Isländer. Er hat fünf Bücher über Island auf Deutsch geschrieben und nebenbei ein Dutzend deutsche Philosophen und Schriftsteller ins Isländische übersetzt, darunter Hegel, Hölderlin, Nietzsche, Schiller, Erasmus von Rotterdam, Precht und Enzensberger.

Bollason kennt jedes Gehöft, jede Kirche und jeden Hügel im Lande und kann zu jedem Ort die dazugehörige Geschichte erzählen, von der Zeit der Landnahme im 9. und 10. Jahrhundert bis heute.

Und so war er einigermaßen überrascht, als er vor drei Jahren einen Anruf von einem Mann bekam, der im Vorstand einer Stiftung saß, von der Bollason noch nie etwas gehört hatte. Magnus Petursson, ehemaliger Staatssekretär im Finanzministerium und Vertreter der Republik Island beim Internationalen Währungsfonds, hatte ein Anliegen. Ob Bollason ihm helfen könnte, eine Stiftung wiederzubeleben, die das Erbe von Wilhelm Ernst Beckmann hütet? „Beckmann, wer?“, fragte Bollason, „ein Verwandter von Max Beckmann?“ – „Nein“, sagte Petursson, dem diese Frage nicht zum ersten Mal gestellt wurde, „das nicht, aber auch ein deutscher Künstler, der auswandern musste, Wilhelm Ernst Beckmann“. – „Nach Island?“, wollte Bollason wissen. „Ja, nach Island“, antwortete Petursson. „Und lebt er noch?“ – „Nein, er ist 1965 gestorben.“

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Bollason kann sich an das Gespräch mit Petursson deswegen so gut erinnern, weil ihm natürlich die Geschichte der deutschen Exilanten bekannt war, die in Island Zuflucht gefunden hatten. Es waren nicht viele, aber ein Wilhelm Ernst Beckmann war ihm nie begegnet, weder persönlich noch in der Literatur.

Es war die Initialzündung für eine Recherche, deren Ergebnis Bollason vor Kurzem in den nordischen Botschaften in Berlin vorstellte. „Zuflucht und Erfüllung“, ein Dokumentarfilm über Wilhelm Ernst Beckmann, den „fast vergessenen Künstler“, dessen Werke man auch heute an vielen Orten der Insel finden kann, ohne dass dem Betrachter bewusst wäre, wer sie angefertigt hat.

Leben und Flucht

Beckmann kam am 5. Februar 1909 in Hamburg-Hammerbrook zur Welt, einem Arbeiterviertel. Seine Eltern, Wilhelm Heinrich Ludwig und Henriette Josephine Beckmann, waren bekennende Sozialdemokraten, der Vater Hafenarbeiter und Gewerkschafter. Aus dem Jungen sollte mal was werden. Nach der Schule machte er eine Lehre bei Peter Olde, einem über Hamburg hinaus bekannten Holzschnitzmeister, der aus England an die Elbe gezogen war.

Um der Erwerbslosigkeit infolge der Wirtschaftskrise zu entgehen, nahm Beckmann einen Job an, den man heute eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme nennen würde: Er brachte jungen Arbeitslosen bei, wie man aus Gips und Holz Spielzeuge macht.

Damit war der Sohn einer Arbeiterfamilie schon recht weit gekommen. Und es wäre sicher nicht die Endstation gewesen, wenn die Nazis nicht interveniert hätten. Bald nach der „Machtergreifung“ verlor Vater Beckmann seinen Job im Hamburger Hafen und kam ins Gefängnis, der ältere Bruder George musste ihn begleiten. Im Oktober 1934 machte sich Wilhelm Ernst Beckmann auf den Weg nach Dänemark und fand dort Obdach bei Verwandten seiner Mutter, zuerst in Sonderborg gleich hinter der Grenze, später in Kopenhagen. Anfang Mai 1935 buchte er eine Passage auf dem Frachter „Bruarfoss“ der isländischen Reederei Eimskip und kam am 9. Mai im Hafen von Reykjavík an. Warum Island? „Wir wissen es nicht“, sagt Arthur Bollason, „vielleicht, weil er in Dänemark keine Aufenthaltserlaubnis bekam. Er hatte in Island keine Bekannten, keine Verwandten und war auch nie dort gewesen.“

Aber – der junge Beckmann war, wie seine Eltern und sein älterer Bruder, Sozialdemokrat, Mitglied einer großen solidarischen Gemeinschaft. Nach der ersten Nacht auf einer Bank in Hafennähe meldete er sich im Reykjaviker Hauptquartier der isländischen Sozialdemokraten. Und die nahmen den jungen Genossen aus Deutschland mit offenen Armen auf, gaben ihm Arbeit und sorgten dafür, dass er nie wieder im Freien übernachten musste.

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Katastrophentest

„Wir wissen nicht, ob Beckmann in Island bleiben oder eines Tages nach Deutschland zurückkehren wollte“, sagt Bollason, „es sah damals nicht so aus, als würden die Nazis bald verschwinden“. Beckmann, gerade mal 26 Jahre alt, war jedenfalls entschlossen, sich zu integrieren. Er lernte Isländisch, heiratete eine fünf Jahre ältere Isländerin, Valdis Einarsdottir, und zeugte mit ihr zwei Kinder, Einar und Hrefna. Beckmann ließ seiner Begabung freien Lauf, gestaltete für die Sozialdemokraten Wahlplakate im Stil des sozialistischen Realismus, entwarf Gebrauchsgegenstände und Buchumschläge. Einen Namen machte er sich vor allem mit sakraler Kunst – Taufbecken, Altarverzierungen, Reliefen, Kandelabern aus norwegischem Massivholz, Skulpturen aus Stein und großformatigen Gemälden mit christlichen Motiven. „Zu Beckmanns Zeit war Island ein großes Dorf“, sagt Bollason, „jeder kannte jeden, und man wurde von einem zum anderen gereicht“.

Versteckte Kunst

Jetzt soll Beckmanns Nachlass katalogisiert werden. Ein Teil der Skizzen und Zeichnungen liegt im Archiv von Kopavogur, einer Nachbargemeinde von Reykjavík, wo Beckmann lange gelebt hat. Der Rest ist über das Land verstreut. „Wir wissen, dass in mindestens fünfzehn Kirchen Arbeiten von Beckmann stehen, es könnten auch mehr sein, man hat sie bis jetzt nur nicht identifiziert.“ Manche Isländer hätten „einen echten Beckmann im Haus“, ohne zu wissen, dass er es war, der die Armlehnen der Couch oder das lang gezogene Bücherbrett geschnitzt hat. Bei einem Objekt ist man sich, auch im Umfeld der Stiftung, über die Urheberschaft nicht einig. Hat Beckmann das Logo für das Hotel Borg, das älteste und vornehmste Gästehaus der Hauptstadt, 1930 eröffnet, entworfen oder war es jemand anders? Eine Petitesse, aber solche Details werden in Island ernsthaft diskutiert.

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Magnus Petursson, 75, der Vorsitzende der Beckmann-Stiftung, sagt, „Ja, es war Beckmann“, Arthur Bollason hält dagegen. „Nein, er war es nicht.“ In einem anderen Punkt stimmen sie dagegen überein. „Es gibt in Hamburg nichts, das an Beckmann erinnert, keinen Platz, keine Straße und keine Schule“, sagt Petursson. Es sei höchste Zeit, dass man „den verlorenen Sohn“ in seine Heimatstadt zurückholt, wie auch immer, es könnte auch ein „Beckmann-Förderpreis“ für junge Künstler sein.

In der Beckmann-Doku kommt auch ein Hamburger Politiker zu Wort, der Sozialdemokrat, Historiker und ehemalige Polizeipräsident der Hansestadt, Wolfgang Kopitzsch. Er sagt, der Name Beckmann sei ihm „vertraut“ gewesen, aber nur, was den Vater angeht. Vom Sohn habe er „in der Form nichts gewusst“ und „war doch sehr überrascht“, obwohl es bekannt war, wie brutal die Nazis gegen Sozialdemokraten vorgegangen seien. Nur – „auf die Idee, dass jemand über Dänemark nach Island flüchtet, darauf wäre keiner gekommen“.

Wilhelm Ernst Beckmann starb am 11. Mai 1965. Sein letzter Wunsch war, dass bei seinem Begräbnis Musik von Johann Sebastian Bach und Agostino Steffani gespielt wird.

Island: Zuflucht und Erfüllung – Der Exilkünstler Wilhelm Beckmann, Dokumentarfilm, 35 Minuten, Buch: Arthur B. Bollason, Regie: Mick Locher

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