Marfa, Texas: Der entscheidende Satz fällt am ersten Abend. „Die Stadt ist so klein“, stellt ein Zugereister fest, „dass sich alle hier für den Mittelpunkt der Welt halten.“ Andere Bewohner vergleichen Marfa mit einer Insel, dabei ist Wasser hier knapp und es regnet selten. Selbst für texanische Verhältnisse liegt der 1700 Einwohner zählende Flecken isoliert da.
Der Big Bend, benannt nach der Schleife, welcher der Grenzfluss Rio Grande im äußersten Südwesten Texas’ zieht, ist eine der leersten Gegenden der USA, und Mexiko keine hundert Kilometer entfernt. Um 1700 kamen erstmals Europäer aus dem damals noch kolonialspanischen Süden in die Gegend und bauten eine Reihe von Forts.
Die Stadt Marfa ist deutlich jünger und verdankt ihre Existenz der im späten 19. Jahrhundert errichteten Eisenbahnstrecke, die auf regelmäßige Wasserstopps angewiesen war. Bis heute fahren kilometerlange Güterzüge laut pfeifend durch den Ort, und auch sonst erinnert vieles an eine Filmkulisse.
„No Country For Old Men“ wurde in der Umgebung gedreht, und noch immer kann man in Marfa im Hotel Paisano absteigen, in dem James Dean 1956 während seines letzten Films „Giganten“ residierte. Co-Star Elizabeth Taylor ließ sich lieber aus El Paso zum Dreh einfliegen, heißt es, denn Marfa war noch ein Kaff ohne jeden Glamour.
Galerie Hetzler: Berlin, Paris, London, Marfa
Der nächste schwierige Star sollte das ändern. Er hieß Donald Judd, und er blieb. Der Minimal-Art-Pionier floh in den 1970ern vor dem Trubel New Yorks und installierte in ehemaligen Armeegebäuden vor der Stadt Kunst aus Stahl und Beton, die in der Leere und Weite der Landschaft besonders gut zur Geltung kam.
Man kann neben diesem heute von der Chinati Foundation verwalteten Gelände auch das Judd’sche Anwesen selbst besichtigen. „The Block“ ist eine ummauerte Ansammlung luftiger Hallen, in denen Judd eigene Kunst, unbequeme Stühle und erstaunlich kurze Tagesbetten aufstellte. In dem spartanischen Interieur sollen, man glaubt es kaum, auch zwei Kinder aufgewachsen sein.
Besonders beliebt war der 1994 gestorbene Donald Judd bei den Marfanianern nicht, aber man ging sich aus dem Weg, wie es hier üblich ist. Mit Judd begann, was bis heute anhält: die Kunst-Karriere Marfas. Mehr und mehr Kreative folgten ihm. Im Jahr 2005 errichtete das Künstlerduo Elmgreen & Dragset eine Prada-Filiale außerhalb des Ortes.
„Prada Marfa“ ist eine Kulisse ohne echte Einkaufsmöglichkeit, ein practical joke als Skulptur, und eine treffende Analyse der heutigen Verhältnisse. Denn die Marke Prada steht für kunstaffinen Luxus aus Europa und der wirkt im stramm republikanischen Westtexas angenehm deplatziert.
Marfa ist heute Westernkaff und Kunstmekka zugleich. So gibt es hier zwar nur eine einzige Ampel, aber umso mehr Galerien, Design- und Möbelläden, eine Radiostation sowie mit dem „Ballroom Marfa“ eine richtig gute Kunsthalle. Und nun auch eine internationale Großgalerie.
Der deutsche Kunsthändler Max Hetzler hat nach drei Filialen in Berlin, einer in Paris, einer in London seit diesem Frühjahr ein Standbein in Marfa. Der seit Jahrzehnten von Hetzler vertretene Albert Oehlen zeigte dort gerade Skulpturen und Zeichnungen, in einem Atelierhaus nebenan sollen Künstler der Galerie ein paar Monate lang arbeiten können – Grace Weaver, eine New Yorker Malerin, wird die erste sein.
Wenn man Hetzler Marfa aber besuchen will und keinen Privatjet zur Verfügung hat, dann muss man vom nächsten Flughafen El Paso aus drei, aus Houston neun und von Los Angeles fünfzehn Stunden lang mit dem Auto heranrollen. Aber ist Isolation wirklich ein Nachteil?
Eigentlich nicht, die Kunstwelt hat eine andere Geografie. Mit jeder Meile unter dem riesigen Himmel, mit jedem Steppenläufer auf dem Interstate Highway fällt die Hektik der Großstadt und der Flughäfen von einem ab. Wer nach Marfa kommt, ist Max Hetzler überzeugt, der macht das bewusst. Was aber nicht heißt, dass der Ort die Massen anzieht.
Manchmal, verrät ein Mitarbeiter der Galerie, schlagen tagelang keine Besucher in den lichten Räumen auf, die man außerhalb des Ortskerns errichtet hat, und dann plötzlich Dutzende an einem Tag, so wie an diesem Wochenende, an dem die Galerie Sammler, Künstler und Freunde eingeladen hat.
Die Künstler Christopher Wool und Charline von Heyl leben ohnehin um die Ecke, und wenn genug Leute in der Stadt sind, dann ist plötzlich überall etwas los. Vom Kurator der Judd-Foundation wird vom Pick-Up aus Videokunst auf eine Scheune projiziert. Um eine Feuerschale versammeln sich Pariser Designer, sammelnde Tech-Investoren aus Los Angeles und die Musikerin Kim Gordon.
Unvorhersehbare Öffnungszeiten
Es ist eine alte Utopie, sich vor einer spektakulären Naturkulisse ganz auf die Kunst konzentrieren zu können, auf Hochkultur nicht verzichten zu müssen. Marfa lebt davon, ein gelungenes, wenn auch prekäres Amalgam zu sein. Da sind die Buchläden und Boutiquen und die kleinen, versteckten Cafés mit den Fliegengittertüren, hinter denen man an wackligen Secondhand-Möbeln sitzend 12-Dollar-Toasts und Kunstzeitschriften aus London konsumieren kann. Wenn man aber Pech hat, ist um vier Uhr nachmittags nirgends ein vernünftiger Kaffee zu bekommen, und das Restaurant macht einfach dicht.
Die zunehmend unvorhersehbaren Öffnungszeiten sind ein Running-Gag in Marfa. Seit der Pandemie, hört man, sei es noch schwieriger geworden, die Infrastruktur aufrechtzuerhalten, denn die Zahl der Leute, die von Kunst und Konsorten leben können ist nun mal begrenzt. Aber immerhin, es gibt eine Infrastruktur. So wie das Crowley-Theater, in dem Albert Oehlen seinen Film „The Painter“ zeigt.
Basierend auf einer Idee des Künstlers und inszeniert von Oliver Hirschbiegel („Der Untergang“) irrlichtert Ben Becker als Malerstar durch das echte Schweizer Atelier Oehlens, brüllt, tropft und kleckert, wirft sich weinend auf den Boden und kommandiert den Assistenten herum. Manche der amerikanischen Zuschauer sind schockiert. Meint er das etwa ernst?
Nein. Ein Porträt ist der Film eben nicht, erklärt Oehlen im Anschluss. Ihn beim Malen zu filmen, bringe aber eben wenig. Denn seine Arbeit bestehe ja vor allem daraus, auf dem Sofa zu sitzen und sich anzuschauen, was er auf der Leinwand gemacht habe und dann über die nächsten Schritte nachzudenken. Ben Becker, die Rampensau, versteht, dass die Realität nicht abendfüllend ist.
Er gibt Oehlen als leidendes Genie, das allerlei Sottisen über die Wichtigkeit des Schmierens, die Tücken der Farbe Gelb und den überschätzten Cézanne herausnölt. Es ist die prekäre Balance zwischen lustvoll ausagierten Künstlerklischees und der realen Herausforderung, aus einer leeren Leinwand ein gutes Bild zu machen, die den bisher nur auf Festivals gezeigten „The Painter“ zu einer Erfahrung macht. Im März 2023 kommt er dann endlich auch ins Kino.