Tuesday, April 23, 2024

„Eo“ im Kino: Endlich wissen wir, wie Esel denken, fühlen und lieben

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Wie ist es, ein Esel zu sein? Man neigt dazu, jemanden, der behauptet, die Antwort zu kennen, selbst für einen Esel halten. Die Transgression der eigenen Identität hat der Philosoph Thomas Nagel 1974 prominent am Beispiel der Fledermaus für unmöglich erklärt. Am nächsten kommt einer Vorstellung wohl nur die Kunst.

Der polnisch-italienische Film „Eo“, der korrekterweise mit „Ia“, dem Geräusch, das Esel hierzulande machen, ins Deutsche zu übersetzen wäre (wodurch aber die lateinische Bedeutung „von ihm“ wegfallen würde), erzählt 86 Minuten lang das Leben aus der Sicht eines Esels. Der 84-jährige Regisseur Jerzy Skolimowski ist ein höchst spekulatives Wagnis eingegangen, das leicht zum eintönigen Dokumentarismus oder aber zum avantgardistischen Experiment für ein kleines, sehr spezifisches Publikum hätte geraten können. Aber überraschenderweise entfaltet sich vor dem Auge des Zuschauers eine klassische, atemberaubende, ja fast allzu menschliche Tragödie, bestehend aus Liebe, Gier, Eifersucht, Intrige, Mord und Gewalt.

Wie ein verlorener Wanderer trottet das Langohr von einer Station zur nächsten, durch polnische und italienische Landschaften, mal allein, mal in Gesellschaft. Seine Reise führt ihn von einem Zirkus über eine Pferdefarm, einen Kinderbauernhof, einen Wald, ein Fußballfest, eine Krankenstation, einen Pelzbetrieb und einen Villengarten bis hin zum Schlachthaus. Wo der Esel normalerweise als Bartleby unter den Tieren gilt, erscheint er hier eher als Inkarnation eines Eichendorffschen Taugenichts. Denn statt störrisch stehen zu bleiben, lässt er sich immer weiter treiben, selbst dann, wenn es klug wäre, innezuhalten.

Bestechende Bildkomposition: Eo auf einer Brücke

Bestechende Bildkomposition: Eo auf einer Brücke
Quelle: Rapid Eye Movies

Eo wird von sechs verschiedenen Eseln gespielt, von Hola, Tako, Marietta, Ettore, Rocco und Mela. Der Abspann weist darauf hin, dass beim Dreh keine Tiere zu Schaden gekommen seien. „Eo“ ist ein Film über unseren Umgang mit Tieren, der Esel wird als Lastenzieher, Zirkusartist, Fußballmaskottchen und Wurstinhalt gehandelt. Aber dass nicht nur auf ihm herumgetrampelt wird, sondern er auch zurücktritt, dass er anscheinend freiwillig den Orten entflieht, an denen er einen idyllischen Lebensabend hätte fristen können, bewahrt den Film davor, zu einer deprimierenden Anklage über animalisches Leid zu werden. Zwar spielt man dem Stoiker im grauen Frack übel mit, aber genauso oft meint man es auch gut mit ihm.

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Jeglichem Schwarz-Weiß-Denken schwört dieses Meisterwerk der Ambivalenz ab – ist der Esel nach seiner Rettung aus dem Zirkus wirklich freier, auch wenn er nichts anderes kennt als die Welt zwischen Bühne, Wunderkerzen und Käfig? Tut der Mann das Richtige, der den Esel mit dem Ausruf „Anarchie“ vom Feuerwehrauto losbindet, nachdem wir ihn gerade in albtraumartigen Sequenzen eine Horrornacht allein im wilden Wald haben durchleben sehen, aus dem er endlich den Weg zurück in die Zivilisation gefunden hatte?

Und begehen die Vagabunden eine gute Tat, wenn sie einem hilfsbereiten Lastwagenfahrer eiskalt die Kehle durchschneiden, um sein Geld zu stehlen, dadurch aber unbeabsichtigt den sich im Laderaum eingesperrten Esel von seinem Schicksal in der Fleischfabrik befreien? In der Aufhebung der Gegensätze zwischen Freiheit und Gefangenschaft, Natur und Kultur, Gut und Böse, Liebe und Hass liegt der ungewöhnliche Charme dieser sanften, knalligen, großen Erzählung.

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Wie also erzählt man die Welt eines Esels, ohne ins Fantastische, Disneyhafte abzugleiten? Einen Großteil seiner atemberaubenden Sogkraft verdankt „Eo“ der Kameraführung, dem Schnitt und der Musik. Stimmungsvolle, mit bedrohlichen Tönen aufgeladene Flüge aus der Drohnenperspektive treffen auf rot gefärbte Eselsträume, etwa von einem elektrischen Tier, und auf bis zur Nahaufnahme herangezoomte Nüstern, die die arrogant-kriegerischen Pferde bei der Ankunft des bescheiden-friedlichen Esels blähen. Liebevoll streichelt die Kamera Eos Fell.

Mal sehen wir die Umgebung verschwommen aus seinen Augen, mal sehen wir ihm in die Augen, und dann wieder sehen wir Dinge, denen er nicht einmal beiwohnt. Das wirkt keineswegs unentschieden, sondern strahlt dieselbe riskante Freiheit aus, die der Film pulsierend und hypnotisch zum Thema erhebt.

Liebe als toxisches Konzept

Ohne, dass wir Eos Gedanken oder Stimme je hören, legt der Film allein durch Kameraschwenks und die Szenenabfolge nahe, dass die dramatische Reise dieses getriebenen Helden von einer Grundsehnsucht gefärbt ist: der nach der Zirkuskünstlerin Kasandra, mit der er so oft gemeinsam aufgetreten ist. Romantiker würden sagen, er vermisst seine erste große Liebe und tut alles, um sie wiederzufinden, selbst wenn das heißt, von den fürsorglichen Bauern zurück zu den brutalen Zirkusbesitzern zu kehren. Tierschützer würden dagegenhalten, dass der Esel ein traumatisiertes, vom Stockholmsyndrom heimgesuchtes Individuum ist, das für ein heiles Leben auf dem Land verloren scheint.

In beiden Fällen markiert die Liebe zeitgemäß ein toxisches Konzept. Realisten jedoch können sich dafür entscheiden, den episodenhaft aneinandergereihten Szenen kein narratives Sinnangebot überzustülpen und das animalische Streunen weniger als Fabel von der Rückkehr des verlorenen Sohnes und vielmehr als triebhafte Willkür zu begreifen. All diese Deutungen ermöglicht der Film – Eo kann vermenschlicht oder in seiner ganzen animalischen Fremdhaftigkeit verstanden werden.

Wo uns der Esel in seinem Handeln oft ganz nah erscheint, werden uns die Menschen und ihre Verhaltensweisen immer fremder. Wenn es dann so weit ist, dass Isabelle Huppert als Gräfin ins Bild tritt und ihrem Pastorensohn das Geschirr vor die Füße donnert, kann einen eigentlich schon nichts mehr schockieren. Geduldig entlarvt Eo durch sein bloßes Zuschauen menschliche Handlungen und Regeln als absurd und hochkomisch.

Können wir wissen, was dieser Esel denkt?

Können wir wissen, was dieser Esel denkt?
Quelle: Rapid Eye Movies

Schon Skolimowskis explizites Vorbild, Robert Bressons Klassiker „Zum Beispiel Balthasar“ von 1966, das auch dieses Jahr wieder von der maßgeblichen Kritikerumfrage des Magazins „Sight and Sound“ zu den 100 besten Filmen aller Zeiten gezählt wurde, war vielen ein Ärgernis. Ingmar Bergman sagte, der Film habe ihn so gelangweilt, dass er durchgehend geschlafen habe. „Ein Esel ist für mich komplett uninteressant, aber ein Mensch ist immer interessant,“ erklärte er sich. Auch in der Vorführung von „Eo“ auf dem Berliner „Around the World in 14 Films“-Festival in der Kulturbrauerei verlässt ein Zuschauer mittendrin den Saal. „Scheiß Film“, schimpft er laut vor sich hin. Aber Eo trottet unbeirrt weiter.

Einige Kritiker mögen sich auch am unverhohlenen Tritt in allzu große Hufstapfen stören. Doch das Remake schnaubt so eigensinnig, dass ihm dies zu keiner Zeit zum Verhängnis wird. Im Vergleich zum schwarz-weißen, fast konventionell gefilmten „Balthasar“ besticht „Eo“ mit einer revolutionäreren Ästhetik; auch lastet dem Tier hier das Leid nicht mehr so einseitig auf dem Rücken wie in dem christlich angehauchten Martyrium von 1966. Er könnte sich trotz oder wegen der ambivalenten Reaktionen, die er auslöst, ähnlich stark ins cineastische Gedächtnis einprägen wie sein Vorgänger. Nach seiner Premiere in Cannes, wo er sich den Preis der Jury mit zwei anderen Arbeiten teilte, hat ihn die „New York Times“ auf Platz 1 der besten Filme des Jahres 2022 gewählt. Polen wird ihn im März ins Rennen um den Oscar schicken.

Normalerweise zeigt uns die fokalisierte Figur, was wir fühlen sollen. Wenn sie weint, weinen wir mit; wenn sie die Stirn runzelt, beginnen wir zu zweifeln. Aber Eo macht nichts. Er steht nur oder läuft. Manchmal atmet er lauter. Was wir denken sollen, liegt nun ganz bei uns.

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