Die Normalverteilung bietet wichtige Orientierungshilfe. Sie geht davon aus, dass in einer Gesellschaft sehr viele Menschen sich in sehr vielen Dingen sehr ähnlich sind. Unter der Prämisse der Normalverteilung unterscheiden sich die meisten Personen nur geringfügig voneinander. Deshalb ist ein gesamtwirtschaftlicher Durchschnitt über alle Personen ein guter Maßstab für die Lebenswirklichkeit der Massen. Er entwpricht dann für etwa zwei Drittel der Gesellschaft der tatsächlichen Alltagserfahrung. Das übrigbleibende letzte Drittel der Bevölkerung verteilt sich auf die extremen Abweichungen einerseits nach oben und andererseits nach unten.
Ein populäres Beispiel zur Veranschaulichung einer Normalverteilung liefert der Intelligenzquotient „IQ“. Demgemäß bestehen rund zwei Drittel der Bevölkerung einen Intelligenztest mit einer Punktzahl entweder knapp unter oder knapp über dem Durchschnitt aller Personen. Lediglich je ein Sechstel bleibt entweder abgeschlagen weit zurück oder liegt hochbegabt weit voraus.
Die Normalverteilung ist deswegen von so herausragender Bedeutung, weil sie der Wirtschaftspolitik als Kompass dient. Sie zeigt, wo in einer Gesellschaft Maß und Mitte liegen. Bei allen Unterschieden reproduziert der gemeinsame Durchschnitt ein genügend präzises Abbild des großen Ganzen. Mittelschicht und Mittelstand bilden das Fundament für einen breit getragenen allgemeinen Konsens. Daraus wird ersichtlich, was politisch geht, ökonomisch machbar ist und moralisch akzeptiert wird und was nicht.
„Sich zu keiner Seite hinneigen, heißt Mitte, kein Schwanken zulassen, heißt Maß. Mitte bezeichnet den rechten Weg, den alle unter dem Himmel gehen sollen, Maß bezeichnet das für alle unter dem Himmel gültige Prinzip“, so soll bereits Konfuzius, der weise chinesische Philosoph, lange vor Christi Geburt beschrieben haben, was damit gemeint ist.
Die Normalverteilung wies Deutschland so lange einen erfolgreichen Weg, wie die Annahme zutraf, dass es einen „Otto Normalverbraucher“ gebe. Dessen Biografie, Lebensform und Verhaltensweise spiegelten einen deutschen Normalfall wider, der für einen Großteil der Bevölkerung in etwa zutraf und für viele nicht allzu weit von der Realität lag. Mittelmaß und Mittelmäßigkeit dienten der Wirtschaftspolitik als brauchbare Referenzgrößen. Demografischer Wandel, also steigende Lebenserwartung, Alterung und Zuwanderung, genauso wie technischer Fortschritt – also Digitalisierung und Datenökonomie – sowie struktureller Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft ließen jedoch seit dem Ende des Kalten Kriegs, der Wiedervereinigung und im Zeitalter der Globalisierung die gemeinsame Basis erodieren.
Die zunehmende Vielfalt von Lebensphasen, Lebensformen und Lebenspartnerschaften, von geografischer und sozialer Herkunft hatte zur Folge, dass der Durchschnitt weniger und weniger aussagekräftig wurde, für das, was die Massen tatsächlich erlebten. Abweichung und Vielfalt wurden zur neuen Norm. Die Spanne zwischen Jungen und ganz Alten, Gesunden und Gebrechlichen, Gebildeten und Unqualifizierten, Familien mit und ohne Kinder, Stadt- und Landbevölkerung mit oder ohne Migrationshintergrund ging auseinander. Die Unterschiede nahmen zu. Die Gesellschaft verlor ihre Mitte.
„Geht es so weiter, zerreißt das Land“
Wohin das politisch führen kann, zeigt sich heutzutage gerade in Thüringen: Dort liegen aktuell die AfD bei 30 Prozent, die Linke bei 27 Prozent, CDU-FDP-SPD-Grüne kommen zusammen auf 36 Prozent. „Das heißt, dass die Parteien der Ränder mindestens 57 Prozent der Wählerinnen und Wähler für sich gewinnen können“, so WELT-Chefredakteur Ulf Poschardt. Das jedoch hat nichts mehr mit einer Normalverteilung um einen gemeinsamen Durchschnitt zu tun. Vielmehr ist es eine Konzentration der Masse an zwei randständigen Gipfeln links beziehungsweise rechts außen – weit weg von Maß und Mitte. „Geht es so weiter, zerreißt das Land“, so Poschardts düstere Prognose.
Vielfalt fördern und Normalität bewahren zu wollen, ist eben nicht gleichzeitig möglich. So viele Vorteile Diversität auch hat: Erfolgreiche Politik bedarf gleichwohl einer gewissen „Ähnlichkeit“ der Massen. Wenn alle unterschiedlich sind, fehlt die gemeinsame Basis. Wenn jeder seine eigene Sprache spricht, wird niemand mehr andere verstehen. Wenn alle reklamieren, Einzelschicksale mit besonderen Ansprüchen zu sein, degeneriert Politik zu einer Einzelfallpolitik.
Dadurch aber wird sie zum teuren Spielball verschiedener Interessengruppen, die zuallererst ihre Eigeninteressen verfolgen. Das führt zu einer Eigendynamik des Zerfalls: weil alle vieles von Staat und Politik verlangen, müssen Steuern erhöht werden. Das schmälert Leistungsanreize. Der öffentliche Umverteilungssektor wird zulasten der Privatwirtschaft aufgebläht. Wohin das führen kann, zeigen die ökonomischen Misserfolge gescheiterter Staatswirtschaften – etwa zu Zeiten des real existierenden Sozialismus, aber auch in Großbritannien oder Frankreich oder Südeuropa im Übergang von Industrie- zu Dienstleistungsgesellschaften.
Mit dem Verlust des aussagekräftigen Durchschnitts verlor Politik ihre Verankerung. Die Folgerung ist deshalb offensichtlich: Westliche Demokratien müssen zu einer von einer breiten Mehrheit getragenen gemeinsamen Basis zurückfinden. Das wird kein kostenloser Selbstgänger. Vielmehr bedarf es neuer gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Konzepte.
Vielleicht sind sogar neue Visionen und Ideologien vonnöten. Diese müssen für „Durchschnittsdeutsche“, Mittelstand und Mittelschicht attraktiv sein. So, dass Politik und Rechtsstaat das große Ganze als Kompass zur Orientierung erkennen können. Die alte (chinesische) Weisheit, dass Maß und Mitte das Maß aller Dinge sind, wird für westliche Demokratien und deren Marktwirtschaften zum Lackmustest der Geschichte. Nur wenn sie bestehen, werden sie gegen Populisten und Autokraten eine Erfolgschance haben.
Thomas Straubhaar ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere internationale Wirtschaftsbeziehungen, an der Universität Hamburg.
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