„Natürlich war ich schuldig.“ Es ist der erste Satz, der hängen bleibt, in einem langen Interview mit Boris Becker. Er redet ruhig, klar. Nach 231 Tagen im Gefängnis wirkt der 55-Jährige aufgeräumt. Sein Gesicht ist deutlich schlanker als zuvor, kantiger. In den folgenden etwa 90 Minuten wird er von dem Urteil berichten, von der Haft, von großer Angst – und seinen Lehren. Und er wird sagen: „Während der Haft war es die schlimmste Zeit überhaupt für mich, aber vielleicht habe ich das gebraucht. Ich glaube, das Gefängnis war gut für mich.“
Es ist ein enorm langes und ausführliches Interview, das Becker, der in der vergangenen Woche in Großbritannien aus dem Gefängnis entlassen und nach Deutschland ausgeliefert worden war, am Dienstag im Fernsehsender Sat.1 gibt. Es soll in diesem Jahr weltweit sein einziges Interview sein. Geführt hat es Moderator Steven Gätjen, der Becker auch während seiner Haft im Gefängnis Huntercombe besucht hatte, um dieses Gespräch vorzubereiten. Gätjen führt das Interview klar, mit Respekt, aber ohne zu brav zu sein, ohne Affekt oder emotionale Überhöhung.
Becker, in einem schwarzen Jackett und schwarzem T-Shirt, berichtet von Geschehnissen, von Gefühlen – ohne Mitleid erregen zu wollen. Er wirkt glaubhaft, gut vorbereitet, erzählt klar und ausführlich. Viermal überkommen ihn die Emotionen. Er bricht kurz ab, versucht, die Tränen aufzuhalten, bittet um eine, um zwei Minuten, fängt sich. Und fährt fort. Sein Wimbledon-Triumph als 17-Jähriger im Jahr 1985, der Generationen prägte und einen Hype um seine Person und hierzulande einen Boom seiner Sportart auslöste, scheint im Moment des Interviews weit weg. Auch all die weiteren Triumphe und Emotionen, die er sich selbst und den Fans bescherte, gehören in eine andere Welt.
Etwas weniger als acht Monate saß Becker im Gefängnis. Er war Ende April zu zweieinhalb Jahren Haft wegen Insolvenzvergehens verurteilt worden. Bei seiner vorzeitigen Haftentlassung vergangenen Donnerstag profitierte Becker von einer britischen Regelung, die eine vorzeitige Abschiebung ausländischer Gefangener in ihr Heimatland ermöglicht.
„Die Richterin hat überhaupt keine Schuld.“
Zu Beginn zeigt Gätjen ihm zwei Fotos, eines aufgenommen vor der Haft, eines von jetzt. Was sieht er? „Ich sehe den gleichen Menschen“, sagt Becker. Davor etwas nervös, unsicher, ungewiss, wie die Zukunft aussieht. Danach etwas schlauer, demütiger. Der gleiche Mensch – „aber zwei verschiedene Leben.“
Mit 97 Kilogramm ging er ins Gefängnis, sieben Kilogramm leichter ging er hinaus. Er habe nicht geraucht, weniger gegessen, sei oft hungrig ins Bett gegangen und habe keinen Alkohol getrunken. „Meiner Gesundheit tat die Haft mit Sicherheit gut“, sagt er.
Das Gespräch geht die Zeit vom Prozess bis heute mehr oder weniger chronologisch durch. Über die Zeit vor Gericht sagt Becker: „Ich war jeden Tag in der Kirche.“ Am 29. April folgte der Urteilsspruch. Mit Nachdruck sagt er: „Die Richterin hat überhaupt keine Schuld.“
Boris Becker zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt
Der ehemalige Tennisstar Boris Becker muss wegen seiner Insolvenzstraftaten ins Gefängnis. Ein Gericht in London verurteilte den dreifachen Wimbledon-Sieger zu zweieinhalb Jahren Haft, wovon er mindestens die Hälfte absitzen muss.
Quelle: WELT/Lore Schulze-Velmede, Sandra Saatmann, Stefan Wittmann
Als Becker dann über den Abschied von seinen Kindern und seiner Lebensgefährtin spricht, hat er zu kämpfen. Zu Liliana habe er gesagt: „Meine Liebe, du musst nicht auf mich warten. Ich weiß nicht, wie lange ich ins Gefängnis muss.“ Und weiter: „Sie hat mich angeschaut: ‚Boris, wir sind ein Team. Du bist mein Partner.‘“ Er stockt. „Sie hat mich angeschaut, umarmt. ‚Red nicht so einen Scheiß.‘“ In seinen Augen sammeln sich Tränen. Kurze Pause.
Die ersten Wochen seiner Haft musste Becker in dem berüchtigten Gefängnis in Wandsworth im Londoner Süden absitzen. „Extrem schmutzig. Extrem gefährlich. Alles, was man sich vorstellen kann, ist hier Zelle an Zelle. Das ist das Auffanggefängnis für Verbrecher aus London. Mörder, Kinderschänder“, sagt Becker. Er hatte zwei große Ängste, wie er berichtet: „Eine Doppelzelle. Und die zweite große Angst hatte ich vorm Duschen.“ Becker hatte Glück, kam in eine Einzelzelle. „Weil ich als ,High Risk‘ eingestuft wurde“, erklärt er. Dazu würden unter anderem Kinderschänder, Mörder oder eben Häftlinge zählen, die etwas zu verlieren haben. Das Gefängnis habe Angst gehabt, dass Mitgefangene ihn bedrohen, sagt Becker. In der Einzelzelle war er zumindest zeitweise sicher. Und in der Dusche war jeder alleine.
Erpressung und Morddrohung
Über den ersten Tag in Haft sagt er: „Ich war verzweifelt, ich hatte Angst. Wenn die Zellentür zugeht, dann ist da gar nichts mehr. Der einsamste Moment, den ich im Leben hatte.“
Die Einzelzelle bot ihm eine gewisse Sicherheit, aber eben nur eine gewisse. Schließlich war er nicht 24 Stunden darin. „Ich habe viel auf den Boden geschaut.“ Bloß keinen anderen Häftling falsch anschauen. „Da geht es ums nackte Überleben. Jeden Tag gehst du aus der Zelle und musst aufpassen um deine Haut, denn die Wächter tun dies nicht.“ Ein Häftling, der wegen mehrfachen Mordes bereits 25 Jahre in Haft saß, habe an sein Geld gewollt und versucht, ihn zu erpressen. „Vor ihm wurde ich beschützt“, sagt Becker.
„Becker wird sich weiter mit seinem Insolvenzverwalter in London auseinandersetzen müssen“
Der Ex-Tennisstar Boris Becker ist nach siebeneinhalb Monaten aus der britischen Haft entlassen worden und wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Doch was passiert jetzt mit dem laufenden Insolvenzverfahren? Das beantwortet der Insolvenzverwalter Christian Graf Brockdorff.
Quelle: WELT
Nach einigen Wochen konnte er ins Huntercombe-Gefängnis außerhalb von London wechseln, ein Gefängnis mit niedrigerer Sicherheitsstufe. Dennoch kam es zu einem Zwischenfall. „Es gab einen Häftling, der mich umbringen wollte“, sagt Becker. „Er hat mir verbal erklärt, was er mit mir machen wird. Aber hat unterschätzt, dass ich mittlerweile eine Stellung hatte.“ Die anderen Häftlinge eilten herbei, beschützten ihn. „Ich habe gezittert.“ Aber er nimmt den Mann, der ihn umbringen wollte, in Schutz. Da ist kein Hass, kein Groll. „16 Jahre im Knast“, sagt Becker über jenen Häftling, „verändern die Psyche.“
Am kommenden Tag sei derselbe Mann entschuldigend vor ihm auf die Füße gefallen. Becker stockt wieder. Tränen in seinen Augen. „Ich habe ihn hochgenommen, ihn umarmt und gesagt, dass ich großen Respekt vor ihm habe … Eine Minute – ich bin gleich wieder da.“ Etwas später wird er sagen: „Ich glaube, dass ich mit einigen Häftlingen ewig verbunden bleiben werde. Wir haben uns gebraucht.“
Ein unerwarteter Brief von Michael Stich
Besuch bekam er wenig – weil wenig zugelassen wurde. Jürgen Klopp beispielsweise habe ihn besuchen wollen, Becker setzte ihn auf die Liste, aber Liverpools Trainer erhielt keine Erlaubnis. Er sei zu bekannt, das Risiko zu hoch. Das Gleiche gilt für Beckers früheren Coach Ian Tiriac.
Dann folgt der dritte Moment dieses Gesprächs, der den 55-Jährigen aus der Fassung bringt. Es geht um Menschen, die sich bei ihm gemeldet haben. Einige Kontaktaufnahmen kamen überraschend. „Michael Stich hat mir einen dreiseitigen Brief geschrieben und tolle Worte gefunden“, erzählt Becker. Stich, sein ewiger Rivale. Als Doppel holten sie vor 30 Jahren Olympiagold in Barcelona, Freunde aber waren sie nie. „Das hatte ich so nicht erwartet“, sagt Becker über den Brief. „Das hat mir Kraft gegeben.“
Auch die Fragen zu seinen Kindern beantwortet er. „Ich bin sehr stolz auf meine Kinder. Ich habe mit allen vier Kindern gesprochen, leider zu wenig mit meinem Jüngsten. Er wollte mich im Gefängnis besuchen, aber ich wollte nicht, dass ein zwölfjähriges Kind mich im Gefängnis besucht.“ Der Kontakt zu seiner Tochter Anna sei durch die Haft deutlich intensiver geworden. Selbstkritisch sagt er: „Es brauchte ein Gefängnis, dass wir uns so nah gekommen sind wie nie zuvor. Wir haben uns jede Woche am Telefon unterhalten. Sie ist ein wunderbares Mädchen.“
Worte voller Respekt und Anerkennung findet er für seine Ex-Frau Barbara. Zu Lilly, seiner Noch-Ehefrau und Mutter seines Sohnes Amadeus, von der er sich gerade scheiden lässt, sagt er: „Wir haben ein schwieriges Verhältnis. Ich bin aber nicht der Typ, der negativ über eine Ex-Frau spricht.“ Gätjen hakt nach, erwähnt, dass Lilly öffentlich präsent ist, sich mehrmals geäußert habe. Becker bleibt zurückhaltend. „Ich versuche, mich korrekt zu verhalten, und werde kein böses Wort sagen.“
„Ich habe über Jahre Fehler gemacht“
Gätjen fragt nach einer Veränderung bei Becker selbst; was der Prozess, das Urteil, die Haft mit ihm gemacht haben. Was folgt, ist kein Jammern, sondern die authentisch wirkende Aussage eines Mannes, der einen Neustart möchte. „Während der Haft war es die schlimmste Zeit überhaupt für mich, aber vielleicht habe ich das gebraucht“, sagt er. „Ich habe mich geläutert, man hat viel Zeit zum Nachdenken. Ich habe über Jahre Fehler gemacht, falsche Freunde gehabt, war nicht organisiert genug, habe mich treiben lassen, wurde vielleicht faul. Ich glaube, dieser Gefängnisaufenthalt hat mich zurückgeholt.“ Und: „Ich habe eine zweite Chance bekommen. Es liegt jetzt an mir, diesen Weg weiterzugehen. Ich glaube, das Gefängnis war gut für mich.“
Er müsse deutlich vorsichtiger sein mit „sogenannten Beratern und sogenannten Freunden. Bis ich es selbst verstehe, werde ich nichts mehr unterschreiben“. Für ihn selbst begann der Neustart dabei nicht erst jetzt mit der Entlassung, sondern 2017. Seitdem habe er sich ein komplett neues Umfeld geschaffen. Die Gefängnisstrafe sei der letzte Schritt gewesen, aber die Veränderung habe 2017 begonnen. „Mit Menschen“, hebt er hervor, „die vor allem nicht in der Öffentlichkeit stehen wollen, die mich als Menschen schätzen.“
In die Freiheit nach Deutschland flog er in einem Privatjet. Becker verteidigt das. „Ich habe den Jet nicht bezahlt, ich habe das Geld nicht. Ein Freund von mir hat angeboten, dass er die Privatmaschine für mich organisiert. Ich sagte ihm, dass er das nicht machen muss.“
Wie geht es jetzt weiter? Wo wird er leben? Und wie? Becker weiß es noch nicht. „Ich kann dir nicht sagen, wohin ich jetzt gehe. Ich glaube, nicht Deutschland, weil ich mein Privatleben über alles schätze, und ich glaube, das schaffe ich hier nicht.“ Liliana sei seine große Liebe, weiter über diese Beziehung möchte er nicht reden.
Letzte Frage: Wo sieht er sich mit 65, mit 75? „Umringt von meinen Kindern. Ich hoffe, es kommen noch ein paar dazu. Ich bin ein Familienmensch und meine Kinder sind …“ Noch einmal stockt er kurz. Ein paar Sekunden Pause. „Alles, was mich motiviert, sind meine Kinder. Ich hoffe, dass ich in Frieden, Freiheit und glücklich meinen Lebensabend verbringen kann. Ich freue mich, ich bin motiviert. Ich muss arbeiten und bin mir dafür auch nicht zu schade.“
Fast alle seine Partner, sagt er noch, seien ihm treu geblieben. „Ich muss hart arbeiten, mir ihre Bestätigung zurückgewinnen.“ Und dann sagt er den letzten Satz dieses Interviews: „Ich glaube, dass ich viel gelernt habe in dieser Haft und ein besserer Mann bin als vorher.“