Einhundertzwanzig Minuten plus Nachspielzeit und ein nervenaufreibendes Elfmeterschießen lagen hinter ihm. Doch als Lionel Messi endlich die letzte Lücke in seiner beeindruckenden Titelsammlung schließen und den Goldpokal in Empfang nehmen wollte, war da ein Widersacher, der es ihm fast schwerer machte als die französischen Gegner zuvor auf dem Feld. Tamim bin Hamad Al-Thani, seines Zeichens Emir von Katar, hängte dem sichtlich irritierten Kapitän während der Siegerehrung ein arabisches Gewand um, erst dann durfte Messi mit der WM-Trophäe vor seine Mannschaftskollegen treten und den Pott in den Abendhimmel von Doha recken.
Für den 35 Jahre alten Fußball-Gott war die Verzögerung nervig, am Ende aber verschmerzbar. Schließlich hatte er auf jenen zauberhaften Moment so lange warten müssen, dass Fußballromantiker schon befürchteten, er könne als Messi, der Unvollendete, in die Geschichte eingehen. Nun gelang ihm in seinem 172. Länderspiel für Argentinien und seinem letzten Einsatz bei einer Fußball-Weltmeisterschaft doch noch der Sprung nach ganz oben: 4:2 im Elfmeterschießen über Frankreich, zwei Tore von ihm selbst beim 3:3 nach Verlängerung, ein epochaler Sieg in einem geschichtsträchtigen Finale.
„Es ist verrückt, dass es so passiert ist. Ich wollte es so sehr“, sagte Messi in der Nacht zum Montag. „Ich wusste, dass Gott es mir geben würde, ich hatte das Gefühl, dass es so sein würde.“ Den „wunderschönen“ Pokal wollte er gar nicht mehr aus den Händen geben. „Wir haben viel gelitten, aber wir haben es geschafft. Wir können es kaum erwarten, in Argentinien zu sein, um zu sehen, wie verrückt es dort sein wird.“
In der Tat durfte Messi für sich verbuchen, dass er nun am Ende einer langen Reise, die einst in Gelsenkirchen begann, doch noch glorreich ins Ziel gefunden hatte. Die letzte WM endete anders als alle anderen: Triumph statt Tragödie – wie ein Rückblick auf seine fünf Teilnahmen an globalen Turnieren zeigt.
Debüt mit 18
Als neues Wunderkind des Fußballs kam er 2006 nach Deutschland. Bei den Titelkämpfen, die später als Sommermärchen in die Historie eingingen, war schon erkennbar, welch Hochbegabter da sein Debüt auf der Weltbühne gab. Beim ersten Spiel der Seinen im Hamburger Volksparkstadion verfolgte der 18-Jährige noch 90 Minuten von der Bank aus den 2:1-Sieg über die Elfenbeinküste.
Sein großer Auftritt kam sechs Tage später: Messi wurde in der Partie gegen Serbien eingewechselt und erzielte in Gelsenkirchen den Treffer zum 6:0-Endstand. Im letzten Gruppenspiel durfte er dann beim 0:0 gegen die Niederlande von Beginn an ran, nahm aber noch eine Nebenrolle ein – wie auch beim 2:1-Sieg im Achtelfinale gegen Mexiko, bei dem er gleichsam eingewechselt wurde. Das Turnier endete mit der Pleite gegen den Gastgeber: 2:4 im Elfmeterschießen, Messi blieb 120 Minuten lang Bankdrücker.
Vier Jahre später reiste der inzwischen beim FC Barcelona zum Weltstar gereifte Angreifer zusammen mit der argentinischen Legende Diego Maradona zum Turnier nach Südafrika. Unter dem Trainer und seinem Vorbild nahm Messi eine immens wichtige Rolle ein, spielte bei den drei Gruppenspielen gegen Nigeria (1:0), Südkorea (4:1) und Griechenland (2:0) sowie im Achtelfinale gegen Mexiko (3:1) komplett durch. Doch der große Hammer kam in Form der deutschen Nationalelf analog zur WM 2006: Aus im Viertelfinale, chancenlos beim 0:4. Die vielleicht von den Erwartungen und Erfüllungen her schlechteste Weltmeisterschaft in Messis Karriere. Er verpasste keine Minute, traf aber nicht einmal.
2014 reiste Messi in das Nachbarland seiner Heimat an, um nun mit der Routine zweier WM-Teilnahmen im Rücken endlich zu reüssieren. Mit 26 Jahren im allerbesten Fußball-Alter und zum ersten Mal bei einem globalen Kräftemessen Kapitän der Albiceleste. Die Gruppenphase in Brasilien brachte drei knappe Siege und einen spielentscheidenden Messi: Ihm gelangen jeweils die Siegtreffer beim 2:1 über Bosnien-Herzegowina und dem 1:0 über den Iran, beim 3:2 über Nigeria erzielte er gar zwei Tore.
Blass im Finale
Jenen kreativen Freigeist mit dem genialen linken Fuß erlebten die Fans auch in der K.o.-Runde. Nach dem mühsamen 1:0 nach Verlängerung über die Schweiz und dem 1:0 über Belgien ging es im Halbfinale gegen die Niederlande. 0:0 stand es nach 120 Minuten, der Kapitän versenkte den ersten Elfer, am Ende standen ein 4:2 und der Gang ins Finale: erneut gegen Deutschland, erneut gegen den Angstgegner bei globalen Turnieren – und erneut mit einem dramatischen Ende. Messi blieb seltsam blass, Mario Götze traf für die Nationalelf in der Verlängerung. Schwacher Trost: Der Kapitän wurde zum Spieler des Turniers gewählt. „Argentinien hat wieder ein WM-Finale erreicht und unser Land dahin gebracht, wo es hingehört“, fasste er das Erlebte schließlich zusammen.
Die WM 2018 begann ernüchternd: 1:1 gegen den Fußball-Zwerg Island im ersten Gruppenspiel. Es folgte ein 0:3 gegen Kroatien und die Furcht vor einem frühen Scheitern. Mit einem 2:1 über Nigeria zogen Messi und Kollegen noch einmal den Kopf aus der Schlinge, der Spielführer traf zum 1:0. Das Hoch und Tief der Argentinier setzte sich dann im Achtelfinale fort: 3:4 gegen Frankreich trotz zwischenzeitlicher 2:1-Führung. Mit 30 Jahren verließ Messi das Turnier mit der großen Frage, ob er jemals den Olymp würde erklimmen können.
Die beeindruckende Antwort fand er im fortgesetzten Alter bei seiner letzten WM. Und das nach einem 1:2 zum Auftakt gegen Saudi-Arabien – der ersten Sensation der Titelkämpfe 2022 in Katar. Danach aber war es das Genie, das sein Team aufrichtete und fast im Alleingang von Sieg zu Sieg trug. In Doha hinterließ er noch einige Bestmarken: Rekordspieler und -torschütze seines Landes mit 172 Einsätzen und 98 Treffern. Dazu die erneute Auszeichnung als Spieler des Turniers.
Diesen Moment mochte er ausreichend genießen. Seine letzte WM-Teilnahme, soviel hatte er vor dem Turnier angekündigt, war das. Aber ein Ende seiner Länderspiel-Karriere verkündete er noch nicht. „Ich liebe den Fußball, ich genieße es, in der Nationalmannschaft zu sein“, sagte er. „Ich möchte noch ein paar Spiele als Weltmeister erleben.“
Er hat ja auch lange genug drauf warten müssen: Zwischen seinem Debüt in Gelsenkirchen und seinem Ende in Doha lagen 6030 Tage.