Ein Mann läuft durch den Wald. Es ist einer jener Wälder um Berlin, vor denen man Angst hat, weil dort in Filmen gerne Feme-Morde passieren. Das Licht bricht sich in den Ästen. Der Mann sieht aus, als habe er ein Gespenst gesehen, als hätte er Stimmen im Kopf.
Man hört fast nichts. Ein Vierzehnjähriger steht plötzlich da zwischen den Bäumen. Und ist dann plötzlich wieder weg. Der Mann im Wald heißt Robert Karow. Der Junge im Wald war er selbst.
Dann wird der Ton aufgedreht. Und eine Leiche liegt da. Aufgesetzter Schuss, die Mundwinkel aufgeschlitzt. Ein klassischer Feme-Mord, sagt der Kommissar.
Dass aus „Das Opfer“ kein klassischer „Tatort“ werden wird, weiß man da eigentlich schon. Wusste man schon vorher. „Das Opfer“ ist ein Übergangsfall, wie es sie manchmal gibt im „Tatort“. Einer aus dem dramaturgischen Niemandsland. Zwischen dem Tod der Kollegin Nina Rubin, der eine der Geschichten ist im Kopf des Robert Karow, die ihn jagen, und dem Amtsantritt von Susanne Bonard.
Nur in solchen Transitzonen ist so etwas wie „Das Opfer“ möglich. Was wirklich schade ist. Weil es der Wahrheitsfindung über Figuren dient. „Das Opfer“ ist eine Undercover-Ermittlung Karows gegen sich selbst. Ein Gang in den Untergrund des Robert Karow. In das, was ihn ausmacht. Und was er unter Verschluss hält, weil in dem System, in dem er arbeitet, die Form von Männlichkeit, von männlichem Begehren, die er gern nicht nur verdeckt leben würde, nicht gerade karrierefördernd ist.
Nur die Wahrheit zählt
Robert Karow kennt den Toten vom Wald. Maik hieß er. Er wohnte mal gegenüber, als Karow vierzehn war und er so aussah, wie der Junge im Wald. Damals, als der Osten noch der Osten war. Sie saßen – man sieht sie immer wieder in leicht sepiafarbenen Rückblicken – nebeneinander auf dem Bordstein.
Mitte der Achtziger wird das gewesen sein. Dann kamen sie sich näher. Und Karows Vater, ein harter Hund, hat den Jungen geschlagen, als er verleugnen wollte, was man heute vielleicht nicht mehr zu verleugnen braucht. Dass sie sich geküsst haben, der Maik und der Robert.
Und dann hat er den Satz gesagt, der Karow an- und vermutlich Susanne Bonard in den Wahnsinn treibt: „Die Wahrheit ist das Einzige, was zählt im Leben.“
Maik war verdeckter Ermittler. Dass Robert seine erste große Liebe dreißig Jahre lang nicht mehr gesehen hat, in der selben Stadt, im selben Job, ist eine der ganz wenigen falben Stellen in diesem ansonsten fabelhaft verschachtelten Fall. Maik war auf die Berliner Untergrund-Größe Mesut Ünes angesetzt. Hat sich in sein Nachtclub-Netzwerk eingeschlichen, fuhr Prostituierte für ihn, war Mädchen für alles. Und er nannte sich Robert.
Erol Yesilkaya hat „Das Opfer“ geschrieben. Er ist ein großer Genrejongleur, ein Meister der nicht-sortenreinen Kriminalerzählung. „Das Opfer“ handelt nicht nur von einem Straßenköter von Ermittler, er ist ein Straßenköter von Fall. Mordgeschichte, Strukturgeschichte, Gesellschaftsgeschichte, Geschichte doppelter Identitäten. Und natürlich eine Clangeschichte.
Eine darüber, wie das mafiöse System funktioniert. Und welche Grenzen es denjenigen setzt, welche Lügen es ihnen abverlangt, die es beherrschen wollen. Letztlich, heißt es mal, gründen sich mafiöse Strukturen in allen Ländern, in allen Kulturen, auf den gleichen Prinzipien: „Alles basiert auf Vertrauen, Respekt, Ehre, Stärke und Angst – Macho-Bullshit, aber verlässlich.“ Verlässlich natürlich auch in dem, wie es die auffrisst, die gegen die Prinzipien verstoßen. Und gegen den Macho-Bullshit.
Und Robert wird Maik
So sitzt Robert in Maiks topasgrün ausgeleuchteter Wohnung – Regisseur Stefan Schaller lässt die Farben übrigens in dieser Geschichte des Zwielichts, des Zwiespalts genauso mustergültig miterzählen wie das Licht und die Musik und überhaupt alle Gewerke. An Maiks Küchentisch. Liest Maiks Ermittlungstagebuch, ein Logbuch des Untergrunds. Trinkt seinen Whisky. Raucht seine Zigaretten. Trägt schwarze Jogginghose, Bomberjacke aus den Achtzigern (Berlins mafiöse Machogesellschaft ist ja so was von Achtziger, aber das nur nebenbei). Und Robert wird Maik.
Womit wir jetzt bei Andreas Pietschmann wären, der Maik ist, und bei Mark Waschke, der Robert ist. Sie ähneln sich kolossal, sie haben beide diesen tieftraurigen Blick, diese Aura der Melancholie. Wie sie Korrespondenz halten, wie Stefan Schaller eine Seelenfreundschaft über den Tod hinaus inszeniert und die Trauer darüber, dass sie endgültig verloren ist, macht „Das Opfer“ (schon der Titel ist ein Meisterwerk der Doppeldeutigkeit) – man soll mit diesen Voraussagen ja eigentlich vorsichtig sein – zu einem Klassiker der „Tatort“-Geschichte.
Was auch für die emotionale Wucht gilt, mit der Mark Waschke sich in diesen körperlichen und seelischen Belastungstest wirft, in den Untergrund dieses Robert Karow geht. Dem vielleicht schillerndsten aller „Tatort“-Ermittler. Einer Figur, die immer schon undercover mit sich selbst spielte, zwischen Soziopathie und Empathie herumrandalierte, zwischen den Geschlechtern herumirrte. „Das Opfer“ ist auch die Geschichte der Menschwerdung des Robert Karow. Man möchte ihn am Ende fast in den Arm nehmen.
Der erste Fall von Karow und Bonard heißt übrigens „Nichts als die Wahrheit“. Und Wahrheit, wissen wir ja spätestens jetzt, ist das Einzige, was zählt im Leben.