Beim Blick aus der Glasfront der DFB-Akademie hinaus auf den verschneiten Trainingsplatz im kalten Frankfurt überfiel Hansi Flick noch einmal der große WM-Blues. Das schmerzhafte Vorrunden-Aus mit der Nationalmannschaft hat der Bundestrainer noch lange nicht verdaut. „Bis gestern war alles gut. Jetzt hat mich wieder eine Erkältung erwischt. Natürlich ist die Enttäuschung noch da. Wenn man die Spiele sieht, kommt der Gedanke, „hätten wir da auch sein können?“ Die Frage muss man sich stellen. Aber es ist nun mal so, dass wir frühzeitig ausgeschieden sind, und dafür müssen wir die Verantwortung übernehmen. Es ist einfach sehr, sehr schade“, sagte Flick in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur.
Der Bundestrainer steckt kurz vor dem Finale zwischen den übermächtig erscheinenden Finalisten aus Argentinien und Frankreich am Sonntag (16 Uhr ARD und Magenta) noch mittendrin in seiner ganz persönlichen WM-Analyse. Daran hat auch die sehr schnell ausgesprochene Job-Garantie durch die DFB-Spitze um Präsident Bernd Neuendorf nichts geändert. Und Flicks Antworten kreisen auch gut zwei Wochen nach dem K.o. in Al-Chaur immer noch um die vielen vergebenen Chancen.
„Uns hat die Effizienz gefehlt. Und defensiv war es einfach nur Durchschnitt, weil wir da zu wenig Kompaktheit hatten“, lautet das sportlich ernüchternde Fazit. Das Finale am Sonntag werde er zuhause schauen – nicht ohne Wehmut. „Beide Mannschaften haben es verdient, in diesem Finale zu stehen“, meinte Flick. Im Gegensatz zur deutschen Mannschaft, sagte er nicht.
Bundestrainer Flick kritisiert die Politik
Die Aufarbeitung geht für Flick noch viel weiter. Politisierte WM, schlechte Stimmung bei den Fans daheim, viel zu viele Themen abseits des Fußballs, beklagt der 57-Jährige. Mit der „One Love“-Binde als Kulminationspunkt. Flick will den Fokus wieder auf den Fußball lenken. „Das ist unsere Aufgabe – es wäre schön, wenn man uns das zugesteht. Für die Politik sind andere ausgebildet“, kritisierte er die öffentliche Erwartung an sein Team und auch die deutsche Politik. „Der französische Präsident Emmanuel Macron hat sinngemäß gesagt, ‚der Fußball wird zu sehr politisiert. Unsere Spieler sollen sich auf Fußball konzentrieren. Politik mach ich‘. Das wäre ein gutes Zeichen gewesen, auch für uns“, sagte er.
In der Verpflichtung sieht Flick sich selbst und seine Spieler für die enttäuschten Fans. „Wir sind in der Bringschuld. Wir müssen wieder Begeisterung erzeugen“, sagte Flick. Die Grundstimmung sei durch das Turnier in Katar nicht besser geworden. „Wir wollen als Mannschaft den Fans zeigen: Wir haben es kapiert, wir wollen alles geben, wir wollen für Deutschland spielen, wir sind stolz darauf und wir freuen uns auf diese Heim-EM.“
Noch vor dem Jahreswechsel will Flick mit seinen WM-Spielern sprechen. „Ich werde in den nächsten Tagen viel telefonieren, um die WM dann abzuschließen und nach vorne zu blicken, das ist mir wichtig“, kündigte er an. Auch mit Thomas Müller will er reden. Ein Rücktritt des Routiniers ist für ihn kein Automatismus. Der 33-Jährige könnte sogar noch zum EM-Faktor beim Heimturnier im Sommer 2024 werden. Italien sei auch mit den Routiniers Leonardo Bonucci und Giorgio Chiellini 2021 Europameister geworden. „Deswegen kann man nie kategorisch sagen, jemand ist zu alt. Es geht um den Leistungsgedanken – und der ist bei uns vorhanden“, versicherte Flick.
Er selbst habe nie an Rücktritt gedacht – und mache seinen Verbleib im Amt auch nicht von der Entscheidung über die Nachfolge für Ex-Geschäftsführer und Freund Oliver Bierhoff abhängig. „Ich bin überzeugt davon, dass es passen wird. Für mich war es nie ein Gedanke, zurückzutreten“, sagte Flick.
Seine emotionalen Worte pro Bierhoff nach dessen Ausscheiden nur vier Tage nach dem WM-K.o. seien als Auszeichnung für dessen Arbeit gedacht gewesen und keine Drohung für persönliche Konsequenzen. „Oliver hat viel für den deutschen Fußball getan, das wollte ich zum Ausdruck bringen. Und das heißt keinesfalls, dass ich mit seinem Nachfolger nicht vertrauensvoll zusammenarbeite“, sagte Flick.
Flick verteidigt DFB-Expertenrat
Große Hoffnungen setzt Flick in die Arbeit der beiden gegründeten Arbeitskreise beim Deutschen Fußball-Bund. DFB-Präsident Neuendorf hatte mit Blick auf die Kommunikation mit Flick betont, dass alles, was in den Gremien besprochen werde, mit dem Bundestrainer rückgekoppelt werde. „Ich bin sicher, dass wir zu einer einvernehmlichen Lösung kommen“, sagte Neuendorf.
Den Expertenrat um Karl-Heinz Rummenigge, Oliver Kahn und Matthias Sammer verteidigte Flick gegen Kritik, nicht heterogen besetzt zu sein. „Zunächst muss man sehen, dass das absolute Persönlichkeiten des deutschen Fußballs sind, die alle sehr viel Erfahrung haben. Sie wissen, worauf es ankommt. Deswegen finde ich es großartig, dass sie sich bereiterklärt haben, beratend zur Seite zu stehen“, sagte Flick.
Ränkespielen oder Animositäten seien nicht angesagt, sagte der Bundestrainer. „Es gibt den Bereich Nationalmannschaft, mit der Frage, wo geht es hin und der Frage, wie wir den wichtigen Schulterschluss mit den Vereinen hinbekommen. Denn klar ist, dass wir nur gemeinsam erfolgreich sein können. Wir müssen in die gleiche Richtung gehen“, forderte er Unterstützung auf dem Weg Richtung EM 2024.