Es kommt nicht allzu oft vor, dass ein Filmtitel außer seinem Thema auch gleich noch die Begründung mitliefert, warum es diesen Film überhaupt gibt. Geben muss.
„Guillermo del Toros Pinocchio“ verkündet trotzig einen eigenen Zugriff auf eine Figur, die jeder zu kennen glaubt. Die aber auf genau diesen Auteur gewartet zu haben scheint, auf den Erschaffer von Erwachsenenmärchen wie „Pans Labyrinth“, um zeigen zu können, aus welchem Holz sie gemacht ist.
Erst vor wenigen Wochen erntete Robert Zemeckis Neuverfilmung des Disney-Zeichentrick-Klassikers von 1940 Verrisse und enttäuschte das Publikum. Allzu seelenlos wirkte auf viele der Realfilm mit Tom Hanks als Holzschnitzer Geppetto und einem erwartbar niedlichen, computeranimierten Pinocchio, als dass von der altbekannten Story vom Borkenbubi, der ein echter, guter Junge werden will, irgendein Funken hätte überspringen können.
Del Toro und sein Co-Regisseur hingegen, der Animationsvirtuose Mark Gustafson (der mit Wes Anderson „Der fantastische Mr. Fox“ drehte), entfachen ein Feuer. Dieser Pinocchio erzählt davon, dass es nichts Vollkommeneres gibt als das Unperfekte, Unniedliche, Unbrauchbare, sofern es geliebt wird und man seiner Entwicklung mit Geduld begegnet.
Klingt sentimental, ja. Aber diese letztlich auf eine sehr persönliche Vater-Sohn-Geschichte hinauslaufende Thematik durchzieht dieses Werk von seiner langen Entstehungsgeschichte über vermeintlich unscheinbare Motive bis hin zu seiner fast haptisch fühlbaren Stop-Motion-Leiblichkeit so konsequent, dass Pinocchio hier eine neue Tiefe und auch eine überraschende Schwere bekommt.
Nicht umsonst ist der Film erst ab zwölf Jahren freigegeben. Er habe diesen Film „für sich“ gemacht, sagt der mexikanische Regisseur, denn das Nachdenken über den eigenen Vater und auch übers Vatersein nehme seit Jahren einen großen Platz in seinem Leben ein.
Mit Geppetto am Grab seines Sohnes Carlo lässt del Toro seine Geschichte beginnen, nicht im heimeligen Werkstatt-Idyll. Schon die Rückblende in glücklichere Zeiten, ein in warmen Farben schimmerndes Vater-Kind-Paradies der Selbstgenügsamkeit, ist porös: Carlo schaukelt, den Blick fröhlich gen Himmel gerichtet, während sich dort das Metallzeitalter in Gestalt von Militärfliegern ins Bild hineinbohrt.
Was sie bedeuten, versteht der Junge nicht. Bei einem Bombenangriff während des Ersten Weltkriegs wird der Zehnjährige ums Leben kommen. Geppetto ist seither ein gebrochener Mann. Der Baum, der seitdem auf Carlos Grab wächst, entspross einem auffallend ebenmäßigen Pinienzapfen, Carlo hatte diesen nach väterlicher Maßgabe – „er muss vollständig sein“ – selbst gefunden. Es scheint, als begrabe del Toro mit dieser Vorgeschichte um Carlo auch gleich den perfekten Pinocchio, wie wir ihn kennen, mit seinem Kindchenschema und seiner aufgeweckten Anpassungsbereitschaft.
Ein Horrorkind, das „Papa“ ruft
Im Kummer-Suff fällt Geppetto nun diese Pinie, es zerreißt ihn dabei fast selbst: Seine Verzweiflung richtet sich einerseits gegen den Verlust des perfekten Kindes, seine Wut richtet sich aber zugleich gegen das weiterhin existierende Schöne, diesen Baum, der auf die Lücke im eigenen Leben hinweist.
Er schleppt den Holzkadaver in seine Werkstatt und schnitzt, hämmert und schraubt sich daraus einen Sohnersatz, krumm und ungenau und asymmetrisch. Als diese Puppe sich am folgenden Morgen erhebt, noch nicht weiß, wo oben und wo unten, was gut und was böse ist, schiebt sie sich auf Spinnenbeinen verkehrt herum ins Bild, trällert mit verdrehten Gliedmaßen ein Liedchen und schlägt dabei alles kaputt. Ein Horrorkind, das seinen entsetzten Schöpfer „Papa!“ ruft.
15 Jahre lang hat Guillermo del Toro für diesen Film gekämpft, immer wieder stagnierte das Projekt und drohte zu scheitern. Der Aufwand ging ins Unermessliche, denn der Regisseur wollte die erstmals 1911 von Giulio Antamoro verfilmte Geschichte von Anfang an in Stop Motion drehen. Er begründete das einmal damit, dass keine Kunstform sein Leben und seine Arbeit mehr beeinflusst habe als Animation und dass er zu keiner Figur eine so tiefe persönliche Verbindung spüre wie zu Pinocchio.
2018 sicherte sich schließlich Netflix die Rechte. Del Toro geht nach eigenen Worten stärker als frühere Verfilmungen von der ursprünglichen, 1883 von Carlo Collodi geschriebenen Story aus, entwickelt sie aber weiter: Collodis Pinocchio sei in mancher Hinsicht pervers und gruselig, sogar leicht nekrophil. Also schon ein halber del Toro.
Als visuelle Inspirationsquelle dienten ihm die 2002 veröffentlichten Pinocchio-Zeichnungen des amerikanischen Kinderbuch-Illustrators Gris Grimly. Dabei veränderte del Toro Collodis Figuren und Teile des Plots und verpflanzte sie in die Zeit des italienischen Faschismus.
Wie schon in „Pans Labyrinth“ oder „The Devil’s Backbone“, Kindergeschichten, die vor dem Hintergrund des Spanischen Bürgerkriegs spielten, verschmilzt der Filmemacher das Fantastische mit dem Horror realer historischer Verwerfungen. Das ist keine kulissenhafte Geschichtshuberei. Es braucht schon die Nazikeule, um den konterkarierten Kern aus dem Märchen herauszuprügeln.
Werden im Original Pinocchio und andere ungehorsame Kinder zu Eseln, nachdem sie sich nach Lust und Laune im Land des Spielens austoben durften, steckt sie nun der linientreue Ortsvorsteher in ein militärisches Ausbildungslager, aus dem sie als perfekte Soldaten hervorgehen sollen. Disziplin und Gehorsam, bei Collodi noch pädagogische Zielwerte, werden bei del Toro mit unmenschlicher Eselei gleichgesetzt, auf sie bauen nur Diktatoren und Marionettenspieler.
Oder, wie es der stumpenförmige Film-Mussolini sagt: „Ich mag Puppen.“ Seine Soldaten sind willenloses Material und umso wertvoller, wenn sie wie Pinocchio Feuer, Verkehrsunfälle und Gewehrkugeln überleben. Das Faschismus-Setting ist nötig, um darin das zentrale und zeitgemäße ethische Motiv zur Entfaltung zu bringen: das Neinsagenkönnen, die Verweigerung, mitzumachen.
Bis er das draufhat, ist del Toros Pinocchio aber nicht einfach nur der Gute. Er äfft den Gekreuzigten nach und versteht nicht, warum alle diese Holzfigur lieben, ihn aber nicht. Er singt auf einer Puppenbühne zu einer Melodie, die Geppetto einst Carlos zur guten Nacht vorsang, einen Kriegspropaganda-Text.
Ein Zerrbild ist er, und als solches macht er es auch seinem Publikum anfangs nicht leicht, ihn zu mögen. Zudem bleibt dieser Pinocchio aus sperrigem Holz, da kann er noch so sehr krähen, er sei „ein Junge aus Fleisch und Blut“.
Bei solchen Lügen wächst seine Nase zu einer veritablen Jungpinie heran, unter dem Applaus derer, die seine offensichtlichen Unwahrheiten für eine geniale Show halten. Die Nähe zum Populisten ist da.
Fast unaufhörlich bewegt sich die Kamera, wenn die Figuren beiläufig wirkende, aufwändig per Handarbeit produzierte Gesten vollführen oder ihre Mimik ambivalente Nuancen zwischen Trauer und Entsetzen, Freude und Bedauern spiegelt. Die passenderweise komplett auf Holzblasinstrumenten eingespielten, süßlichen Musicalnummern Alexandre Desplats entfalten vor allem in der deutschen Synchronfassung durchaus ein gewisses Augenroll-Potenzial.
Fuchs und Kater kommen gar nicht vor
Ironisch kommentiert durch die Grille, die mehrmals zu singen ansetzt und jedes Mal schmerzhaft eins auf den Chitinpanzer bekommt, bis sie endlich im Abspann ihr swingendes Lied vom Optimismus zuende singen darf. Das Chimärenhafte aus Musicalschmalz und Düsternis gehört zu den kraftvollen Seltsamkeiten dieses Films, die sich nach und nach immer besser erschließen.
Das räudige Duo aus Fuchs und Kater kommt gar nicht vor, dafür hat del Toro aus dem plumpen Puppentheaterdirektor Feuerschlucker den affektierten, Tee trinkenden Graf Volpe mit fuchsrot abstehenden Haartollen gemacht, im Original kosmopolitisch und arrogant gesprochen von Christoph Waltz.
Auch der Erzähler, der auf Herzhöhe in Pinocchio lebende Grillenmann mit Schriftstellerambitionen (Originalstimme: Ewan McGregor), wirkt mit seinen pupillenlosen Insektenaugen nicht putzig wie in anderen Verfilmungen, sondern eher wie der kakerlakenhafte Verwandte der schauerlichen, aber gütigen übersinnlichen Wesen.
Aus Collodis blauer Fee macht del Toro zwei Schwestern, die eine, mit gehörnter Maske und Schlangenschweif, verkörpert den Tod, die andere, vierflügelige, haucht Pinocchio Leben ein. Gesprochen von Tilda Swinton, sind sie die eigentlichen Lehrerinnen des Jungen: Sie bringen ihm die für eine unsterbliche Holzpuppe schwer zu kapierende Binse bei, dass das Leben der Menschen begrenzt und deshalb so kostbar ist.
Ohne zu dick aufzutragen, spielt del Toro das Vater-Sohn-Verhältnis gleich dreifach durch: Außer Geppetto und Pinocchio spiegeln auch Graf Volpe und sein geknechteter Affe Spazzatura sowie der faschistische Ortsvorsteher und dessen den Brudermord verweigernder Sohn Varianten der väterlichen Forderung an den Nachwuchs, sich einem Idealbild anzugleichen, um sich väterliche Liebe zu verdienen. Wer hier wirklich etwas zu lernen hat, sind solche Väter.
Einmal schenkt Geppetto seinem Pinocchio eine Fibel. „Ich liebe es“, jubelt die Holzpuppe und springt enthusiasmiert herum. Dann setzt sie sich und fragt freundlich: „Was ist das?“ Etwas genau zu durchdringen und seinen Zweck definieren zu können, so lehrt uns dieser Pinocchio, muss keine Bedingung sein, um es ins Herz zu schließen.