Es kam auf drei Wörter an. Am Donnerstagabend verkündeten die 27 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union nach einem Gipfel in Brüssel einen beispiellosen Schritt. Sie wollen den Gaspreis deckeln. Und das notfalls auch ohne Zustimmung Deutschlands. In der Abschlusserklärung der Politiker fehlte eine Formulierung, die frühere Dokumente noch enthielten: dass man die Entscheidung „in geeinter Weise“ treffen werde.
Am Montag sollen die Energieminister der EU die Details ausarbeiten und den Beschluss fassen. Eine Formalität, wie es scheint. Vor allem Griechenland, Belgien, Polen und Italien hatten für den Gaspreisdeckel gekämpft. Deutschland wehrte sich monatelang. Eine Begrenzung, meinte die Bundesregierung, gefährde die Versorgungssicherheit des ganzen Kontinents. Berlin fürchtete, dass Tanker mit Flüssiggas an Bord künftig eher asiatische Häfen ansteuern könnten. Also Länder, die den Preis nicht bremsen und womöglich mehr Geld für den Rohstoff bezahlen.
Europas mächtigste Politiker mussten handeln. Denn das teure Gas treibt die Inflation in die Höhe, droht die EU in eine Rezession zu stürzen. Donnerstagnacht in Brüssel, bei einem Dinner mit Seezungenfilet, ging es um nichts weniger als die Frage, wie sich die Energiekrise lösen lässt. Wie man Millionen Bürgern helfen kann, die mit Gas heizen. Der Deckel ist nun die Antwort. Eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten würde genügen, um ihn zu beschließen: 15 Länder mit 65 Prozent der EU-Bevölkerung.
„Der Krieg hat massive Konsequenzen für unsere Wirtschaft“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach dem Gipfel, „und das wird sich im nächsten Jahr fortsetzen.“ Eine prognostizierte Lücke von 30 Milliarden Kubikmeter Erdgas im Winter werde sich zwar füllen lassen. Die Energiepreise blieben aber hoch. Daher sei es wichtig, meinte von der Leyen, dass sich die EU-Staaten beim Einkauf nicht gegenseitig überböten.
Die EU bezog einst 40 Prozent ihres Erdgases aus Russland. Heute, nach fast zehn Monaten Krieg in der Ukraine, sind es noch neun Prozent. Dieser drastische Rückgang ist ein Grund dafür, dass die Preise so hoch sind. Im Sommer wurden an der Großhandelsplattform TTF in den Niederlanden 350 Euro pro Megawattstunde erreicht. Derzeit sind es rund 115 Euro pro Megawattstunde, immer noch ein Vielfaches im Vergleich zu der Zeit vor Russlands Angriff auf die Ukraine.
Am Montag müssen die Energieminister eine zentrale Frage klären
Der Deckel dürfte Wladimir Putin kaum treffen, dafür exportiert Russland zu wenig Gas in die EU. Etwas anderes hingegen könnte dem Land schon schaden: Am Rand des Gipfels einigten sich die Botschafter der 27 EU-Staaten auf ein weiteres Sanktionspaket, das neunte seit Kriegsbeginn. Fast 200 russische Unternehmen und Bürger, sagten EU-Diplomaten, würden mit Vermögens- und Einreisesperren belegt.
Was ist nun der nächste Schritt? Am Montag müssen die EU-Energieminister eine zentrale Frage klären: wie hoch der Deckel des Gaspreises sein soll. Die Kommission hatte im vergangenen Monat 275 Euro pro Megawattstunde vorgeschlagen. Zu viel, fanden am Donnerstag die Staats- und Regierungschefs. Sie sprachen auf dem Gipfel über eine deutlich niedrigere Grenze. Von 160 bis 220 Euro war die Rede. Die deutsche Regierung, sagte ein Diplomat, habe signalisiert, sie sei zu 180 Euro bereit.
Es sieht so aus, als zöge Berlin mit, trotz aller Bedenken. Bundeskanzler Olaf Scholz sagte nach dem Gipfel bloß, er wolle keinen zu niedrigen Preisdeckel, damit die Gasversorgung Europas nicht gefährdet werde. Zudem setzt er darauf, dass die Begrenzung am Ende unnötig ist. „Der Preisdeckel wird so hoch sein“, erklärte Scholz, „dass ich hoffe, dass er niemals relevant wird.“ Widerstand sieht anders aus.
Dabei sind die Sorgen der Bundesregierung verständlich. Der Handel mit dem Rohstoff Gas ist ein globales Nullsummenspiel: Was Europa kauft, fehlt in Asien. Flüssiggas oder „Liquefied Natural Gas“, wie es in der Branche heißt, kurz LNG, ist dort sehr begehrt. Die größten Importeure der Welt sind China, Japan und Südkorea. Sie konkurrieren mit der EU um das LNG, das aus Australien, Katar und den USA kommt. Die 27 europäischen Staats- und Regierungschefs betonten in ihrer Abschlusserklärung daher, es sei wichtig, „langfristige Verträge“ mit „zuverlässigen Partnern“ abzuschließen.
Und es gibt noch ein weiteres Problem: Intercontinental Exchange, kurz ICE, das amerikanische Unternehmen, das die Gasbörse TTF betreibt, droht mit einem Rückzug aus den Niederlanden, wenn Europa die Obergrenze tatsächlich einführt. Man müsse nun „alle Optionen“ prüfen, schrieb ICE in einem Memo an die EU-Politiker. Es scheint aber unwahrscheinlich, dass sie sich davon noch abhalten lassen.