Es ist ein Spannungsfeld zwischen Wirklichkeit und Anspruch: Mehr als 1,2 Millionen Menschen hat Deutschland in diesem Jahr bisher aufgenommen – mehr als im Jahr 2015. Zugleich reformiert die Ampel das Asyl- und Staatsbürgerschaftsrecht. Und die Verhaftung einer Gruppe Reichsbürger sowie die Blockaden der „Letzten Generation“ zeigen bei allen Solidaritätsappellen den Zerfall der Gesellschaft an ihren Rändern.
Das war die Gesprächsgrundlage des WELT Talk am Mittwochabend. Zu Gast bei Jan Philipp Burgard, Chefredakteur WELT Fernsehen, waren die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang, CDU-Parteichef Friedrich Merz und der Schriftsteller Leon de Winter („Leo Kaplan“, „Das Recht auf Rückkehr“) aus den Niederlanden.
In Sachen Einwanderung herrschte zwischen den Parteivorsitzenden insofern Einigkeit, als dass die Situation in 2022 sich von der in 2015 unterscheidet, da unter den 1,2 Millionen Aufgenommenen rund eine Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine sind. Zudem könnten Städte und Kreise auf Strukturen und Erfahrungen aus den bisherigen Zuwanderungswellen zurückgreifen, sagte Lang.
CDU-Chef Merz mahnte aber, sich nicht zu überschätzen. „Dieses Land ist von einer Infrastruktur vielleicht auf 74 bis 78 Millionen Einwohner ausgerichtet. Wir haben jetzt 84 Millionen Einwohner und zunehmende Probleme mit Kindergärten, Krankenhäusern, Schule und der Infrastruktur. Dieses Land ist auf eine solche Einwanderung nicht vorbereitet“, sagte Merz.
Der Zwist zwischen Lang und Merz zeigte sich bei den Reformen der Ampel im Asyl- und Staatsbürgerrecht. Anfang des Monats hatte der Bundestag mit den Stimmen von SPD, Grünen und FDP eine Gesetzesänderung verabschiedet, die auch abgelehnten und ausreisepflichtigen Asylbewerbern einen Weg in einen legalen Aufenthalt bietet. Zudem plant die Koalition, dass die deutsche Staatsbürgerschaft künftig schon nach fünf Jahren verliehen werden könnte, anstatt wie bislang nach acht Jahren. Die Union lehnt das ab.
Leon de Winter öffnete die Perspektive: Er sieht Deutschland wie auch seine Heimat Niederlande in einem internationalen Wettbewerb mit Ländern wie Kanada und den USA. „Alle wollen die klugen Köpfe – wo wachsen die, wo gibt es die“, fragte er in die Runde.
Dass de Winter in seinen Ausführungen auch Problemviertel angesprochen hatte, nahm Lang zum Anlass, eine grundsätzliche Vision ihrer Politik zu skizzieren: „Wo leben die Menschen, die wenig Geld haben, wo leben die Menschen, die viel Geld haben?“, fragte Lang, um dann selbst zu antworten: „Vielleicht sollten wir uns darüber Gedanken machen, wie wir eine andere Durchmischung hinkriegen. Dann reden wir aber auch über Städteplanung und Mietrecht.“
„Das ist ein Versuch, diese Gesellschaft zu verändern, mit dem Sie granatenmäßig Schiffbruch erleiden werden, wenn sie so etwas machen“, konterte Merz. „Wir haben hier Gruppen in Deutschland – in der Regel junge Männer zwischen 20 und 30 Jahren, die hier größte Probleme auslösen. Und wenn sie davor die Augen verschließen und stattdessen so einen Vorschlag machen, werden die Probleme eher größer.“
Gemeint waren Männer wie derjenige, der in Illerkirchberg ein 14-jähriges Mädchen erstochen haben soll. Der mutmaßliche Täter ist ein Asylbewerber aus Eritrea. Ein ausreisepflichtiger und verurteilter Vergewaltiger aus Afghanistan kehrte nach Verbüßung seiner Haft wieder in das Dorf zurück. „Migration ist der Elefant im Raum“, sagte de Winter.
Er führte die Frage nach Chancen und Risiken der Einwanderung auf eine Abwägung zurück: Ist es möglich, dass ein Sozialstaat wie der deutsche oder der niederländische auch ein Einwanderungsstaat ist? Oder setzt Einwanderung voraus, dass jeder gewillt ist, seine eigene Lage aus eigenem Antrieb zu verbessern und auch verbessern zu können? „In Amerika hat Barack Obama das Umgekehrte versucht: Ein Einwanderungsland zu einem Sozialstaat zu machen. Es ist nicht gelungen“, sagte de Winter.
An Problembewusstsein mangelte es den Gästen nicht. Lang verteidigte auch gegen die Kritik von Merz den Anspruch der Ampel, die Einwanderung nach Deutschland zu vereinfachen und dabei die beschriebenen Probleme zu vermeiden. Es war de Winter, der in dem Talk eine außerdeutsche Perspektive bot und Spitzen setzte.
Als über gesellschaftlichen Zusammenhalt diskutiert wurde, hatte de Winter mit Blick auf die Blockaden der „Letzten Generation“ einen pointierten Vorschlag: „Eine gute postmoderne Gesellschaft macht eine Klebeecke im Viertel, wo man sich einen Tag festkleben kann. Das wird subventioniert“, sagte er. „Und am Ende des Tages kommt ein Klebeexperte, um sie wieder abzulösen.“
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