Friday, April 19, 2024

Frankreich gegen Marokko: Mehr als nur ein Spiel

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Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der das Halbfinale im al-Bayt-Stadium in Doha mitverfolgt hat, gab bei der Frage zum Boykott der Fußballweltmeisterschaft die Devise aus, dass man Fußball nicht politisieren dürfe. Auch Walid Regragui, der charismatische Trainer der marokkanischen Nationalelf, beschwor im Vorfeld alle Fans, die Politik an diesem Abend außen vor zu lassen. „Am Ende geht es nur um Fußball“, so Regragui.

Nur um Fußball, ernsthaft? Das Match zwischen Frankreich-Marokko war natürlich mehr als nur ein Spiel. Bereits der Einzug der „Löwen des Atlas“ ins Halbfinale wurde in Frankreich als „politische Botschaft des afrikanischen Kontinents an die ehemaligen Kolonialherren“ interpretiert. Bei Marokkos Turniergegnern Belgien, Portugal und vor allem Spanien, ehemalige Protektoratsmacht wie Frankreich, hat die Botschaft gesessen. David hatte Goliath eliminiert. Der 2-0-Sieg Frankreichs hat dieser Überraschungsserie ein Ende gesetzt, aber bietet trotzdem die Chance, die schmerzhaften Seiten der Geschichte gemeinsam zu überwinden.

Für die marokkanische Nationalmannschaft muss sich das historische Halbfinale wie ein lang ersehntes Heimspiel angefühlt haben. Das Stadium in Doha war in Rot-Grün getaucht, die Marokko-Fans übertönten die wenigen Franzosen. Nicht nur die arabische Welt, ganz Afrika stand an diesem Abend hinter den Marokkanern. Auch wenn der Traum vom Einzug ins Finale geplatzt ist, geht ein stolzer Verlierer vom Platz, der seinen Einzug ins Halbfinale trotz Niederlage als Sieg feiern kann.

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Als Sieger fühlt sich auch der marokkanisch-französische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun, aus dem der unerwartete Einzug Marokkos in das Halbfinale einen glühenden Fußballfan gemacht hat, und der das Ereignis mit der Rückkehr von Mohammed V. aus dem erzwungenen Exil 1956 vergleicht. Das Datum markiert das Ende des 44 Jahre währenden französischen Protektorats. Im Unterschied zu Algerien war die französische Schutzherrschaft deutlich kürzer, weniger blutig, nicht so traumatisch. „Marokko war keine Kolonie“, so Ben Jelloun, der das Verhältnis trotz jüngster Konflikte als „freundschaftlich und respektvoll“ beschreibt.

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Auch seine Schriftstellerkollegin Leila Slimani hat ihre glückliche Fußball-Zerrissenheit perfekt beschrieben: „Marokko ist die Mannschaft meines Herzens, aber auch wenn Frankreich gewinnt, bin ich glücklich.“ Slimani schreibt auf Französisch und fühlt sich als „hundertprozentige Französin und hundertprozentige Marokkanerin“. Eine Vorstellung von ihrer doppelten Identität geben die ersten zwei Bände ihrer Familien-Trilogie „Das Land der Anderen“: Ihr marokkanischer Großvater hatte im Zweiten Weltkrieg für die Franzosen gekämpft und im Elsass seine zukünftige Ehefrau kennengelernt. „Ich lasse mich nicht in Identitäten einsperren“, sagt Slimani selbstbewusst.

Vielen Spielern der marokkanischen Nationalelf dürfte es nicht viel anders gehen. Über die Hälfte hat eine doppelte Staatsbürgerschaft, zwei von ihnen sind Franko-Marokkaner. Achraf Hakimi, in Spanien geboren, spielt seit vergangenem Jahr bei PSG und ist der beste Freund von Frankreichs Superstar Kylian Mbappé, dessen Mutter Fayza Lamari wiederum algerischen Ursprungs ist. Marokkos Trainer Regragui, 47, ist im Pariser Vorort Corbeil-Essonne geboren und aufgewachsen. Er hat für die Clubs von Toulouse, Ajaccio und Grenoble gespielt.

„Eher von einem Gefühl der Revanche angetrieben“, finden Frankreichs Rechtspopulisten

Auf 1,3 Millionen schätzt das französische Statistikinstitut INSEE die Zahl der Franzosen mit marokkanischen Wurzeln, auf mehrere Millionen diejenigen, die eine familiäre Verbindung zu Marokko haben. Nach Algeriern sind Marokkaner damit die zweitgrößte Einwanderungsgruppe. Neben Regragui, Slimani und Ben Jelloun stehen Prominente wie die Sängerin Amel Bent, die Schauspieler Djamel Debouz und Gad Elmaleh sowie die Ex-Ministerinnen Rachida Dati, Myriam El Khomri, Najat Vallaud-Belkacem und Audrey Azoulay für die franko-marokkanische Doppelkultur.

Frankreichs Rechtspopulisten wollen den Doppelstaatsbürgern die Doppelfreude nicht gönnen. Sie haben schon im Vorfeld aus dem Match eine Art Rachefeldzug der Unterdrückten herauslesen wollen. „Manche Fans sind eher von einem Gefühl der Revanche gegenüber Frankreich angetrieben als von Sportsgeist“, sagte Jordan Bardella, Chef des Rassemblement National, selbst Sohn italienischer Einwanderer. Er stört sich daran, dass viele junge Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft für Marokko sind. Der Philosoph Alain Finkielkraut sprach gar von grassierender „Frankophobie“ und beklagte mangelnde Dankbarkeit. Die Anhänger des glücklosen rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten Eric Zemmour redeten einen „Fußball-Schock der Zivilisationen“, wenn nicht einen regelrechten Bürgerkrieg herbei.

Natürlich sind Ausschreitungen nicht auszuschließen. Doch die gibt es oft nach großen Spielen, selbst die Siege des Pariser Clubs PSG enden regelmäßig in Krawallen auf den Champs-Elysées, ohne dass von einem Bürgerkrieg die Rede wäre. Doch das Nachspiel auf den Straßen Frankreichs darf auch als Test für die Olympischen Spiele 2024 gelten.

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Um ein peinliches Fiasko wie beim Champions-League Spiel im Mai im Stade de France zu vermeiden, wo es zu Chaos und heftigen Ausschreitungen kam, hat der französische Innenminister Gérald Darmanin ein doppelt so großes Aufgebot von Ordnungskräften wie gewöhnlich angekündigt. 10.000 Polizisten und Gendarmen sind im Einsatz, die Hälfte von ihnen patrouilliert in Paris und Umgebung. Von den rund 170 Randalierern, die nach dem Achtelfinale Portugal-Marokko verhaftet wurden, seien drei Viertel Franzosen gewesen, versicherte Darmanin. Sympathisanten der verbotenen rechtsextremistischen Gruppe „Generation Identitaire“ haben angekündigt, die Straßen Straßburgs einer „Invasion“ nicht kampflos zu überlassen.

Wie politisch aufgeladen Fußball ist, wird sich auch am Donnerstag zeigen. Ausgerechnet am Tag nach der Niederlage der „Löwen des Atlas“ wird Frankreichs Außenministerin Catherine Colonna in der marokkanischen Hauptstadt Rabat erwartet. Das lang geplante Treffen soll die diplomatische Eiszeit zwischen beiden Ländern beenden und den ersten Besuch Macrons im März vorbereiten.

Macron hat den Autonomie-Plan Marokkos nicht anerkannt

Vor zwei Jahren hatten Paris und Rabat ihre Botschafter zurückgerufen. Auslöser war Frankreichs Beschluss, die Zahl der Visa für Marokkaner zu halbieren, um Druck auf die Länder des Maghreb auszuüben und sie zur Aufnahme ausgewiesener Migranten zu bewegen. Damals verdächtigte Paris überdies das marokkanische Königshaus, Macron, seinen damaligen Regierungschef und Kabinettsmitglieder mit der israelischen Spyware Pegasus abgehört zu haben. Rabat dementierte hartnäckig.

Noch ein dritter Streitpunkt stört das Verhältnis: Macron, der sehr um Versöhnung mit Algerien bemüht ist, hat sich im Westsaharakonflikt auf die Seite Algiers geschlagen und den Autonomie-Plan Marokkos nicht anerkannt. Seit dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine setzt Frankreich außerdem auf Gaslieferungen aus Algerien. Aber auch an den großen Phosphat-Vorkommen Marokkos dürften die Europäer Interesse haben. Ein Sieg der Löwen hätte die Annäherung von Paris und Rabat zweifellos leichter gemacht.

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