Es gibt ein schlimmeres Erwachen als das von Gregor Samsa, der sich eines Morgens in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt findet. Das des kleinen Maulwurfs zum Beispiel. Auf dessen Kopf, den er aus der Erde streckt, um zu sehen, ob die Sonne schon aufgegangen war, landet eine runde braune Wurst. Weswegen er sich empört aufmacht, um den Übeltäter zu finden.
Jedes Tier, das er konsultiert, versichert, es sei es nicht gewesen, ganz sicher nicht – um der Unschuldsbeteuerung weitere Attacken hinterherzudrücken. Die Taube klatscht ihm einen feuchten Klecks vor die Füße. Das Pferd legt ihm fünf dicke Äpfel hin. Der Hase schießt ihm fünfzehn runde Böhnchen um die Ohren, die Kuh platscht ihm einen Fladen hin. Es ist ein Scheißspiel, in das er da geraten ist, ohne eigenes Verschulden, die Widerlegung jeder Marketing-Lüge, dass Darm Charme habe.
Fast cineastisches Erzählen
Wolf Erlbruchs Bilderbuchgeschichte „Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat“, wurde 1989 weltberühmt, obwohl die Buchhändler, wie ihr Schöpfer gerne erzählte, sich am liebsten quer in die Eingänge ihrer Buchhandlungen gelegt hätten, um so viel Schmutz nicht in ihre Regale zu lassen. Doch sie konnten sich nicht wehren. Die Kinder liebten Erlbruchs Geschichte. Das lag nicht nur am lustvollen Tabubruch, den sie beging – davor hatte niemand für Kinder Kacke zum Thema gemacht.
Sondern auch daran, wie avanciert der Gerechtigkeitsfeldzug des kleinen Maulwurfs gezeichnet war: vergrößerte Details, mit ein paar sicheren Strichen hingemalte Gesichtsausdrücke, fast cineastisches Erzählen. Lauter Qualitäten, die Vorschulkinder noch nicht zu analysieren, aber durchaus zu schätzen wissen. Und so wollten sie denn Erlbruchs Maulwurf-Geschichte unbedingt haben.
Es gehört zum Schicksal von Kinderbuchzeichnern, dass man sich für ihre Illustrationen mehr interessiert als für sie selbst – auch die kleine Raupe Nimmersatt kennen sehr viel mehr Menschen als ihren Schöpfer Eric Carle. Und so kam es, dass Wolf Erlbruch eher nur jenen etwas sagte, die sich mit Kinderbüchern professionell beschäftigen. Obwohl er 2017 als erster Deutscher mit dem Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Preis ausgezeichnet wurde, der weltweit höchstdotierten Auszeichnung für Kinder- und Jugendliteratur. Obwohl er noch viele andere wundervolle Bücher geschaffen hat – „Die große Frage“ zum Beispiel oder „Ente, Tod und Tulpe”, in dem er Kindern das Sterben erklärt.
Und obwohl er unfassbar gut war in dem, was er tat: ein Meister der weißen Fläche, ein virtuoser Collagist, der in seinen Bildern wie beiläufig Picasso oder de Chirico zitierte. Immer wieder arbeitete er auch für Erwachsene, am Anfang seiner Karriere für Magazine wie „Twen“ oder „Transatlantik“, später als Illustrator von Joyce-, Benn- oder Goethe-Ausgaben. Doch wie das oft ist mit Illustratoren: Man schätzt ihre Arbeiten und erkundigt sich nicht nach ihren Namen.
Nun ist Wolf Erlbruch mit 74 in Wuppertal gestorben. Sein Maulwurf, dem jemand auf den Kopf gemacht hat, wird sicher ewig leben.