Patrick Reimer machte kurzen Prozess, wie so oft. Der Puck prallte von der Bande ab, landete vor seinem Schläger, und der Stürmer der Nürnberg Ice Tigers versenkte die Scheibe mit einem Schlagschuss unhaltbar für Mannheims Schlussmann Arno Tiefensee im Tor. Es war ein Treffer, wie Reimer ihn in der Deutschen Eishockey-Liga (DEL) schon hundertfach erzielt hat. Als der Flügelstürmer 2003 für die Düsseldorfer EG das erste Mal in der DEL auf dem Eis stand, war Tiefensee gerade mal ein Jahr alt. Am Samstag wurde Reimer 40 Jahre alt, kein Feldspieler in den großen deutschen Profiligen ist älter als der Bayer. Der Eishockey-Routinier ist ein Phänomen, auch in seinem 20. DEL-Jahr zählt er zu den Leistungsträgern seines Teams.
„Ich habe viel Glück gehabt und wahrscheinlich eine gute DNA. Ich bin im Laufe meiner Karriere von schweren Verletzungen verschont geblieben und habe eine gute Veranlagung, dass ich immer noch die Spritzigkeit habe, auf diesem Niveau spielen zu können“, erzählt Reimer WELT AM SONNTAG.
Das Niveau, das er auch in dieser Saison aufs Eis bringt, ist erstaunlich. Reimer ist mit 25 Punkten der beste Scorer seines Teams (Spiel gegen Ingolstadt am Freitagabend nach Redaktionsschluss – d. R.). Der Kapitän geht auch mit 40 Jahren noch voran und hat mit einer durchschnittlichen Eiszeit von 18:10 Minuten pro Spiel die meiste Einsatzzeit aller Nürnberger Stürmer. Reimer baut die vielen DEL-Rekorde, die er in seinen 1046 Spielen gesammelt hat, kontinuierlich aus. Niemand schoss mehr Tore (389), sammelte mehr Scorerpunkte (841) und ist im Play-off erfolgreicher (90 Scorerpunkte) als er.
In 20 Jahren hat sich viel verändert – Ernährung, Soziales, Training
Der extremen Belastung einer Saison hält er nicht nur dank seiner guten Gene stand. „Das Eishockey ist deutlich athletischer geworden. Das Spiel ist viel schneller als früher, alles ist professioneller. Es gibt viel mehr Faktoren, auf die jetzt Wert gelegt wird. Die Trainingssteuerung ist individueller geworden“, sagt Reimer. Früher habe es einen einzigen Plan für die komplette Mannschaft gegeben: „Jetzt schaut man schon auf die physischen Begebenheiten jedes einzelnen Spielers, um gezielt arbeiten zu können. Früher gab es so gut wie keine Videoanalyse, was man sich heute nicht mehr vorstellen kann.“
Unvorstellbar sind aus heutiger Sicht auch die Ernährungsgewohnheiten, die zu Reimers Karrierebeginn eher einer Freizeittruppe würdig waren: „Früher hatten wir nach einem Auswärtsspiel die Wahl zwischen Schinken- und Salami-Pizza. Das war’s dann. Auch im Bereich der Ernährung ist es deutlich professioneller geworden.“
Reimer hat gelernt, auf seinen Körper zu hören. Er weiß, was er braucht, um fit zu bleiben. „Das Alter bringt es mit sich, dass man anders trainiert, ich mache viel mit dem eigenen Körpergewicht. Im Sommer nehme ich kein einziges Gewicht in die Hand. Ich bin einfach so ein aktiver Typ und habe früher schon viel aus Spielsportarten gezogen.“
Der Sport hält ihn nicht nur physisch fit. Einige seiner Mitspieler könnten Reimers Söhne sein. So siezte ihn vor zwei Jahren ein Mitspieler, der aus der Jugend zu den Profis gestoßen war, im Training. Erst nach zehnmaliger Aufforderung, ihn doch bitte beim Vornamen zu nennen, hieß der Teamkollege nicht mehr Herr Reimer, sondern Patrick. „Natürlich haben meine 20-jährigen Mitspieler andere Interessen als ich. Aber es ist auch ein gewisser Jungbrunnen für mich. Ich bekomme so viel mit, was ich sonst nicht mehr mitbekommen würde. Oft ist es witzig, manchmal verdrehe ich auch die Augen. Ich möchte das Ganze nicht missen, das gibt mir Verständnis für die neue Generation“, sagt Reimer, der es bedauert, dass sich das Leben in der Kabine in den vergangenen zwei Jahrzehnten geändert hat: „Wenn ich mal 20 Jahre zum Beginn meiner Karriere zurückgehe, dann war etwa das Handy dort noch kein wichtiger Faktor. Das hat sich leider geändert, aber das ja ist im kompletten sozialen Leben so.“ Statt eines gemeinsamen Bierchens nach dem Spiel sind jetzt die sozialen Netzwerke angesagt.
Reimers tragische Rolle bei den Winterspielen 2018
Die Karriere des 105-maligen Nationalspielers hat einen Makel, noch ist Reimer titellos. Am nächsten dran war er bei den Olympischen Spielen 2018, als das Nationalteam in einem dramatischen Finale 3:4 nach Verlängerung gegen Russland verlor. Der damals 35-Jährige spielte eine tragische Rolle, als er in der Overtime eine Strafzeit kassierte, die Russland den Siegtreffer ermöglichte. „Ein Titelgewinn wäre schön. Das Ziel verfolge ich, seit ich in die DEL gekommen bin: deutscher Meister werden. Mir ist bewusst, dass sich die Chancen dafür in Nürnberg verändert haben, aber ich gehe ja in die Saison, um zu gewinnen. Ich bin mir bewusst, dass dafür alles perfekt laufen muss. Aber es gibt die Hoffnung und den Glauben, dass es funktionieren kann“, sagt Reimer.
Deutsches Eishockey-Wunder ohne Happy End
Es war das erste olympische Eishockeyfinale mit deutscher Beteiligung. Zweimal kann das deutsche Team die Führung der Russen ausgleichen. Leider reichte es nur für Silber.
Quelle: WELT
Vielleicht hat er in dieser Saison die letzte Chance. Reimer, dessen Vertrag am Ende der Spielzeit ausläuft, weiß noch nicht, ob er auch noch mit 41 Jahren auf dem Eis stehen wird. Karriereende oder neuer Vertrag? Er hat sich eine Frist für seine Entscheidung gesetzt. Da er sich nicht von Emotionen leiten lassen will, lässt sich der Familienvater noch etwas Zeit. „Ich werde mich mit dem Gedanken befassen müssen, was nach der Karriere kommt. Ich kann mir ein Leben ohne Eishockey vorstellen, weil alles seine Zeit hat. Die Frage ist, ob diese Leidenschaft Eishockey als Offizieller so erfüllend wie als Spieler ist. Das gilt es herauszufinden. An diesem Punkt bin ich aber noch nicht“, sagt Reimer.
Das Karriereende nach dieser Saison könnte ihm einen weiteren, wenn auch inoffiziellen Rekord bescheren: Nach 20 Jahren als Eishockeyprofi hat Reimer noch alle Zähne im Mund – „da habe ich echt Glück gehabt“.
„In dieser Silbermedaille sind 95 Prozent Gold drin“
Die deutschen Eishockey-Cracks haben ein denkwürdiges Olympia-Finale knapp verloren. Wir haben ein paar Reaktionen von deutschen Fans eingeholt.
Quelle: WELT