Es war eine Szene, die in der anstehenden Aufarbeitung der Brasilianer eine Rolle spielen dürfte. Nach dem späten Ausgleichstreffer von Kroatiens Bruno Petkovic (117.) zum 1:1, durch den der Außenseiter doch noch das Elfmeterschießen erzwingen konnte, richteten sich bei diesem WM-Viertelfinale die Blicke auf Brasiliens Trainer Tite.
Der 61 Jahre alte „Professor“, wie er im Land des Rekordweltmeisters genannt wird, wäre gefragt gewesen. In Momenten wie diesen ist der Trainer der so etwas wie ein Fixstern. Er muss Psychologe sein: Wem ist zuzutrauen, dass er im Elfmeterschießen die Nerven behält? Er muss Beobachter sein: Wer sieht so fit aus, dass er auch im Kopf noch stark genug ist? Und er muss Zuhörer sein: Wie sind die Äußerungen der Spieler zu deuten, wem kann ich die Last des Schusses aufbürden?
Tite aber entzog sich dem. Als die Spielertraube der Brasilianer zusammen kam, um die fünf Spieler zu benennen, die den Gang zum Elfmeterpunkt antreten müssen, ging er weg. Setzte sich auf die Ersatzbank, ließ das Starensemble und seinen Assistenten regeln, wer auserkoren werden sollte.
„Das geht nicht. Er gehört in den Kreis der Spieler, nicht auf die Ersatzbank. Er ist der Chef, er muss bestimmen, wer schießt“, sagte der ehemalige Bundesliga-Star und brasilianische Nationalspieler Naldo, der bei Magenta als Experte im Studio war und die TV-Bilder von Tites bemerkenswerten Abgang auf die Bank etwas ungläubig verfolgt hatte.
Rodrygo verschießt, Marquinhos trifft den Pfosten
Es war nicht klar, was Tite dazu bewogen hatte. Ob eventuell alles aus seiner Sicht geklärt war oder er bewusst den Spielern die Verantwortung in so einer komplizierten Phase der Partie komplett übertragen wollte. Fakt ist: Es ging gründlich schief.
Zuvor hatte Neymar nach einem 0:0 während der regulären Spielzeit die Brasilianer mit seinem Treffer in der Verlängerung (105. Minute+1) scheinbar in das Halbfinale geschossen. Doch der Treffer von Petkovic riss den Favoriten aus allen Träumen – und weitete sich dann zu einem traumatischen Ende aus. Denn wie schon im Achtelfinale gegen Japan avancierte Kroatiens überragender Torhüter Dominik Livakovic zum Retter für sein Team und parierte einen Elfmeter von Rodrygo. Zudem traf Marquinhos im entscheidenden Elfmeter nur den Pfosten.
Neymar kam deshalb gar nicht mehr zum Zuge, was bei einigen Experten die Frage aufwarf, warum ausgerechnet er den fünften Elfmeter hätte schießen sollen und nicht gleich den ersten geschossen hatte. Er, der sichere Schütze – und eben nicht Rodrygo, der mit seinem mäßigen Versuch Livakovic nicht vor allzu große Probleme stellte. So war nunmehr bei vier der vergangenen fünf Weltmeisterschaften für die Seleção in dieser Runde Schluss, die letzte Finalteilnahme datiert aus dem Jahr 2002. Die Aufbauarbeit wird nun aber ein anderer Trainer leisten müssen, denn der Abschied von Tite nach der WM ist schon seit Monaten beschlossene Sache – ganz unabhängig vom Ausgang der WM.
Er lehnte nach dem Aus zudem die alleinige Verantwortung für das Scheitern ab. „Ich verstehe, dass ich die Hauptverantwortung trage, ich bin kein Heuchler. Aber ich bin nicht alleine verantwortlich, wir sind alle verantwortlich“, sagte er. 2018 in Russland war er mit seinem Team ebenfalls im Viertelfinale gescheitert, damals an Belgien. 2019 gewann Tite mit den Brasilianern die Copa América, der Traum von einem WM-Titel platzte nun erneut. „Ich respektiere das Ergebnis“, sagte er konsterniert.
Tite verteidigte die Entscheidung, Superstar Neymar erst als fünften Elfmeterschützen vorgesehen zu haben. „Weil der Fünfte entscheidend ist, da ist der Druck am größten“, erklärte er. Tite widersprach auch einem Journalisten, dass seinem Team beim Gegentor die Orientierung fehlte: „Da kann ich nicht zustimmen, dass wir unorganisiert waren.“