Thursday, April 18, 2024

„Serbien nutzt sein Erpresserpotenzial, weil es um seine geopolitische Bedeutung weiß“

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Vor den Toren der EU wartet ein Mann, der das Zeug hat, sich zum zweiten Viktor Orbán aufzuschwingen. Wie der ungarische Ministerpräsident unterdrückt er kritische Stimmen und sucht die Nähe zum russischen Regime. Er versteht es, politische Hebel gegen Brüssel einzusetzen – und kommt wie Orbán mit Positionen durch, die europäischen Interessen entgegenstehen. Der Mann ist Aleksandar Vucic, 52 Jahre alt, Präsident Serbiens.

Vucic regiert das größte und politisch bedeutsamste Westbalkan-Land, und, glaubt man offiziellen Verlautbarungen Brüssels, dem aussichtsreichsten Beitrittskandidaten zur EU.

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Nur: Experten und liberale Stimmen im Land sehen das anders. Sie werfen den europäischen Politikern Appeasement vor, eine Beschwichtigungspolitik gegenüber dem serbischen Präsidenten.

Brüssel will Vucic nicht entfremden, das strategisch wichtige Serbien – Faktor für Stabilität ebenso wie Destabilisierung in der Region – in Team Europa behalten. Ob diese Strategie Früchte trägt, daran gibt es im Land selbst große Zweifel.

Dusan Mladjenovic in der Redaktion ...

Dusan Mladjenovic in der Redaktion …
Quelle: Carolina Drüten

Ein Fernsehstudio in der serbischen Hauptstadt Belgrad. N1 ist einer der letzten verbliebenen regierungskritischen Fernsehsender in Serbien und der lokale Rundfunkpartner von CNN International. Dusan Mladjenovic steht vor der Kamera, es geht um die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar. Als Moderator und Redakteur ist er seit einiger Zeit für internationale Nachrichten zuständig.

... und auf dem Bildschirm (rechts im Bild)

… und auf dem Bildschirm (rechts im Bild)
Quelle: Carolina Drüten

Viel besser sei das, als über Serbiens Innenpolitik zu berichten, sagt Mladjenovic, als er aus dem Studio getreten ist und sein Ansteckmikrofon abgenestelt hat. „Denn dort stehst du an vorderster Front“, sagt der 40-Jährige.

„Jeden Tag werden wir als Verräter, ausländische Söldner und CIA-Agenten beschimpft, sogar von Mitgliedern der Regierungspartei im Parlament.“ Ihm selbst sei schon auf offener Straße nachgestellt worden, zweimal sogar, als er mit seinem Kind unterwegs war.

Wenige Stunden zuvor hat N1 gemeinsam mit einem weiteren unabhängigen Sender einen Tag lang nur Schwarzbild gesendet. „Ohne freie Medien herrscht Dunkelheit“, war auf den Bildschirmen zu sehen.

Wahlen sind frei, aber nicht fair

Für regierungskritische Sender ist es in Serbien schwierig, eine Kabellizenz zu bekommen. Die Aktion sollte das Publikum vor einem düsteren Szenario warnen, in dem unabhängige Information aus dem Fernsehprogramm verdrängt werden.

Nicht nur die freie Presse steht unter Druck in Serbien. Die Regierung gängelt auch Zivilgesellschaft und Opposition, wie ein Bericht der Nichtregierungsorganisation Freedom House beschreibt. Serbien wird darin nicht mehr als Demokratie, sondern als „hybrides Regime“ eingestuft.

Wahlen in dem Land sind zwar frei, aber nicht fair. Der Report schildert „Dominanz der Medien durch die Regierungsparteien, Druck auf die Wähler und andere Unregelmäßigkeiten“. Präsident Vucic beherrscht demnach das politische System.

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Russlands Einfluss auf Balkan

„Die Regierung mag keine kritischen Stimmen“, sagt Mladjenovic. „Aber das ist unser Job. Und nicht, PR für die Regierung zu machen.“ Aus Brüssel bekommen er und seine Mitstreiter in dieser Hinsicht wenig Unterstützung. Europäische Spitzenbeamte scheuen sich, Vucic und seine Regierung allzu lautstark zu kritisieren.

Ende Oktober etwa postete Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf Twitter: „Serbien ist auf seinem Weg in die EU gut vorangekommen. Die Fortschritte müssen fortgesetzt werden.“

Ein Jahr zuvor schrieb sie: „Ich begrüße die bisher unternommenen Schritte in Bezug auf Reformen und Rechtsstaatlichkeit.“ Ängste vor russischem Einfluss und Konflikten auf dem Westbalkan lassen die EU sanfte Töne gegenüber Vucic anschlagen.

Auf Zusammenarbeit mit Autokraten angewiesen

Journalist Mladjenovic sagt, der Fernsehsender sei in regem Austausch mit europäischen Vertretern in Serbien. Die Pressefreiheit müsse verbessert werden, werde stets gesagt. Aber es passiere nichts. „Aus irgendeinem Grund wenden sie ihren Blick ab.“

Es ist das gleiche Problem wie mit Ungarn: Brüssel sieht sich auf Zusammenarbeit mit Autokraten angewiesen, die die Spielregeln brechen. Ungarns Premier Viktor Orbán und Vucic setzen ihr politisches Gewicht ein, um Zugeständnisse abzuringen. Der Unterschied: Anders als Serbien ist Ungarn EU-Mitglied. Und als solches hat es Veto-Macht.

Denn in der Außenpolitik gilt in der EU das Einstimmigkeitsprinzip. Das führt dazu, dass Orbán die Gemeinschaft immer wieder erpresst, um seine Interessen durchzusetzen. Zuletzt hatte Budapest Hilfen für die Ukraine blockiert. Im Sommer verwässerte es zudem Strafmaßnahmen gegen Moskau.

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Das Beispiel müsste zeigen, dass eine EU-Mitgliedschaft kein Allheilmittel gegen fehlende demokratische Kontrolle und Autoritarismus ist. Doch in der europäischen Balkan-Politik hat dies kaum Konsequenzen: Die vermeintliche Stabilität gewinnt.

Orbán wie Vucic haben in ihren Ländern eine „illiberale Demokratie“ eingeführt. Kein Wunder also, dass Orbán und sein Mann in Brüssel – EU-Erweiterungskommissar Oliver Varhelyi – sich dafür einsetzen, Serbien in den europäischen Club aufzunehmen. Es würde das Lager um Budapest, das für wirtschaftliche Zusammenarbeit, aber gegen freiheitlich-westliche Werte steht, stärken. Auch ist Vucic strikt gegen Russland-Sanktionen – obwohl es als EU-Beitrittskandidat dazu verpflichtet ist, die eigene Außenpolitik an die europäische Linie anzupassen.

Die ehemalige Diplomatin Sonja Biserko engagiert sich für Menschenrechte in Serbien

Die ehemalige Diplomatin Sonja Biserko engagiert sich für Menschenrechte in Serbien
Quelle: Carolina Drüten

Sonja Biserko sieht in Serbien „ähnliche illiberale Tendenzen wie in Ungarn“. Die ehemalige Diplomatin sitzt in einem roten Lehnstuhl im – ironischerweise – Hotel Moskau in Belgrad, das außer seinem Namen nichts mit Russland verbindet. Lange Jahre vertrat sie Jugoslawien, zu dem Serbien bis zum Verfall des Vielvölkerstaats gehörte, in London und Genf.

Anfang der 1990er-Jahre trat sie aus Protest gegen die Politik von Slobodan Milosevic zurück, der später als Kriegsverbrecher verurteilt wurde. Heute setzt sich die 74-Jährige für Menschenrechte ein. Sie ist Gründerin des gemeinnützigen Helsinki-Komitees für Menschenrechte in Serbien.

Biserko erklärt das Dilemma Brüssels. „Die EU will Serbien für sich gewinnen. Aber Serbien nutzt sein Erpressungspotenzial, weil es um seine geopolitische Bedeutung in der Region weiß“, sagt sie. Bei jedem ihrer Worte klingt ihre jahrzehntelange politische Erfahrung durch. Westbalkan, Ukraine, Türkei, Russland, EU – Biserko weiß, wovon sie spricht.

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Mit Blick auf Serbien kritisiert sie die Beschwichtigungspolitik Brüssels. „Die EU sollte ihre Finanzhilfen als Druckmittel einsetzen. Sie sollte fordernder auftreten“, sagt sie. „Stattdessen schreibt sie Fortschrittsberichte.“ Vor allem Deutschland könne eine größere Rolle spielen.

Fehlende Perspektiven, die Erweiterungsmüdigkeit der EU und wirtschaftliche Stagnation verleitet vor allem die junge Generation dazu, den Westbalkans – ob Serbien, Bosnien-Herzegowina oder Albanien – in Scharen zu verlassen. Biserko sieht das als großes Problem, denn wer bleibt zurück, um Reformen umzusetzen? Sie beschreibt die Region mittlerweile als „antimodern und antiliberal“. Die Menschen in Serbien müssten sich fragen: „Welche Art von Gesellschaft sind wir und wie viel Zeit brauchen wir, um uns zu wandeln?“

TV-Moderator Mladjenovic bleibt. Auf die Frage nach dem Warum erzählt er von einer Begegnung am Vortag. Als der Sender Schwarzbild sendete, hatte er den halben Tag frei – schließlich gab es kein Programm. Auf einer Behörde, wo er ein Dokument abholte, sprachen die Menschen ihn an. Sie erkannten ihn aus dem Fernseher wieder. „Sie sagten: ‚Warum sendet ihr schwarz? Wird der Sender abgeschaltet?‘ Sie haben sich Sorgen gemacht“, sagt Mladjenovic. Und das sei viel mehr wert als jede Anfeindung.

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