Wednesday, November 6, 2024

Krieg gegen die Ukraine: Juri Durkot führt Tagebuch

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Lemberg, den 10. Dezember, abends

Ich habe nicht viele Erinnerungen an Zahnärzte aus meiner Jugendzeit. Es sind nur ein paar Episoden. Die meisten von uns Kids trugen eine Zahnspange, die mehr drückte als korrigierte. In der Schule gab es einen Zahnarztstuhl, und eine dazugehörende Dentistin kam ein- oder zweimal in der Woche, um Schülerzähne zu flicken. Bei jeder Gelegenheit neigte sie dazu, ihren jungen Patienten eine Amalgamfüllung zu verpassen.

Wir konnten nicht nachvollziehen, warum sie so enthusiastisch ans Werk ging. Vielleicht musste sie nur ein Plansoll erfüllen. Jedenfalls hatte sie keinen guten Ruf. Wir verwendeten alle möglichen Tricks, um nicht auf dem Folterstuhl zu landen. Wir wollten unsere Zähne vor fremdem Eingriff behüten wie russische Oligarchen heutzutage ihre Yachten vor Beschlagnahme. Meistens ist es uns tatsächlich gelungen. Den Oligarchen gelingt es bisher übrigens auch ganz gut.

Juri Durkots Tagebuch

Irgendwann schickten mich meine Eltern zu einer Zahnärztin in die städtische Poliklinik. Sie verordnete mir eine mit dem harmlos klingenden Wort „Zahnhygiene“ getarnte Rosskur. Ihr einziges Instrument war ein spitzer Haken, mit dem sie in meinem Mund stocherte. Damals war es ein Standardverfahren, bei dem das Blut des Gepeinigten ringsherum spritzte. Ultraschallgeräte für Zahnbehandlung haben die Sowjets nicht produziert. Sie waren mit der Herstellung von Überschallraketen beschäftigt.

Dabei waren Zahnärzte in der kommunistischen Zeit gar nicht schlecht. Ganz im Gegenteil – oft bewirkten sie und ihre Zahntechnikerkollegen Wunder bei der Herstellung von Kronen und Brücken. Nur ihre Ausstattung war miserabel. Die Zahnstühle klotzig und kaum regulierbar. Dafür war die Behandlung kostenlos. Zumindest auf dem Papier. Im realen Leben funktionierte alles in der Grauzone der Beziehungen, Geschenke und Briefumschläge.

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In den 1990er-Jahren entstanden die ersten privaten Zahnarztpraxen und Kliniken. Etwas später schossen sie wie Pilze aus dem Boden. Es war eine Revolution. Moderne Geräte und Materialien in Verbindung mit guter Ausbildung machten den Unterschied. Nun pilgerten sogar Patienten aus europäischen Ländern oder den USA für eine Zahnbehandlung in die Ukraine.

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Irena gehörte nicht zu der ersten Welle privater Zahnärzte. Dafür war sie einfach zu jung. Sie hat in den Nullerjahren in einer größeren Klinik angefangen. Sammelte Berufserfahrungen, bildete sich weiter, fuhr zu Fachkongressen. Die zierliche Frau, mittlerweile knapp über vierzig, war immer ehrgeizig. Fast nebenbei heiratete sie und gebar drei Kinder. Und beschloss sich selbstständig zu machen. Zunächst teilte Irena die Räumlichkeiten einer kleinen Praxis mit einer anderen Ärztin. Kaufte später ihrer Kollegin deren Anteil ab. Renovierte und investierte. Hatte Patientinnen und Patienten aus Polen, Deutschland und den Vereinigten Staaten.

Dann kam der große Krieg. Irena fing an, ukrainische Soldaten kostenlos zu behandeln. Im Oktober kamen die Stromausfälle. Seit November sind sie zur Regel geworden. Irgendwann gab es in der Praxis kein Gas mehr. Eine Woche lang. Die Raumtemperatur fiel auf 12 Grad. Es war nicht mehr an Arbeit zu denken.

Café-Gäste in improvisierten Pavillons in Odessa mit Generatoren. Hier ist die Stromversorgung nach den jüngsten russischen Angriffen ganz zusammengebrochen.

Café-Gäste in improvisierten Pavillons in Odessa mit Generatoren. Hier ist die Stromversorgung nach den jüngsten russischen Angriffen ganz zusammengebrochen.
Quelle: Global Images Ukraine via Getty Images

Es ist ein Problem, mit dem die gesamte Branche zu kämpfen hat. Die Krankenhäuser verfügen über eine Notstromversorgung. Die Zahnkliniken und kleine Praxen nicht. Nun versuchen die Zahnärzte verzweifelt, Generatoren oder sonstige Notstromaggregate zu beschaffen. Es klappt nicht immer. Je größer die Klinik, desto höher der Strombedarf. Aber auch die kleineren Praxen haben es nicht leichter.

Für Irena ist ein Generator keine Lösung. Wer soll das schwere Gerät jeden Tag morgens auf der Straße aufstellen und abends zurück in die Praxis stemmen? Treibstoff nachfüllen und Filter reinigen? Also hat sie sich für eine Powerstation entschieden, eine Art großer Akku, der für einige Stunden Strom spendet und dann – wenn der Stadtteil wieder mit Elektrizität versorgt wird – von der Steckdose aufgeladen werden kann. Es ist keine billige Lösung. „Eigentlich ist es eine Investition, die sich nie rentiert, aber zumindest behalte ich meine Patienten. Sonst würden sie alle weglaufen.“

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Am schlimmsten ist, wenn mitten in der Behandlung plötzlich der Strom ausfällt. Das passiert immer wieder. Auch Irena hat schon einmal einen solchen Albtraum erlebt. Unlängst musste sie einem Patienten eine Notfüllung verpassen und ihn nach Hause schicken. Am nächsten Tag kam er wieder. „So kann es wirklich nicht weiter gehen“, sagt die Zahnärztin. Sie wartet nun auf ihre Powerstation. Vielleicht kommt das Gerät nächste Woche aus Polen. Dann kann Irena weiter kostenlos ukrainische Soldaten behandeln.

Lemberg, den 7. Dezember, abends

Eine Stadt produziert viele Geräusche. Das Rascheln der Straßenfeger am frühen Morgen. Das Brummen der laufenden Motoren im ersten Morgenstau. Den permanenten Lärm der Baustellen. Das Quietschen der Straßenbahnen tagsüber und das nervöse Gehupe und Gebimmel des frühen Abendverkehrs. Den Rambazamba der Kneipen und Diskos in der Altstadt am Wochenende. Die gedämpfte Unterhaltung in den Straßencafés. Das Geklimper der Straßenmusiker. Das Rauschen der Bäume im sommerlichen Wind. Das Knirschen der Schritte im winterlichen Schnee. Das aufgeregte Bellen der Hunde.

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Inzwischen gibt es ein neues Geräusch, das die Kakophonie der Stadtklänge übertönt – das Rattern der Generatoren. Sie stehen auf den Gehsteigen und in den Hinterhöfen, vor Friseursalons und Bankfilialen, vor Kneipen und Apotheken. Man kann sie ganz gut hören. Wenn man abends in der Ferne ein leises Rattern hört, sieht man auch immer ein schwaches Licht. Man bewegt sich auf das Geräusch zu. Das Rattern wird lauter, das Licht heller. Man läuft vorbei und taucht wieder ins Dunkel ein. Es gibt keinen Strom in unserem Stadtteil. Heute zwischen fünf und neun Uhr abends. Um sechs ist es schon dunkel. Etwas ungünstig, aber keine Tragödie. Man passt sich an. Und man gewöhnt sich daran. Dafür gibt es ja die Taschenlampen in den Smartphones.

Manch ein Geschäft hilft sich mit einer akkubetriebenen LED-Leuchte aus. Wie unser kleiner Lebensmittelladen um die Ecke. Hier gibt es alles, was man braucht: Milch und Käse, Obst und Gemüse, Pasta und Olivenöl, Wurst und Mineralwasser, Konservendosen und Kaffee. Und immer viele Kunden. Am Vormittag sind es oft die Schüler, die hier gerne Cola, Eis oder Süßigkeiten kaufen. Tagsüber sind es die Omas, die zu Hause für ihre Töchter und Söhne kochen. Am frühen Abend schauen hier dann die Frauen und Männer auf dem Heimweg von der Arbeit vorbei.

Licht ist gefragt: Ein Straßenverkäufer in Lemberg

Licht ist gefragt: Ein Straßenverkäufer in Lemberg
Quelle: AFP

Es hat etwas gedauert, bis ich kapiert habe, dass man nun die beiden Flügel der Automatiktür mit der Hand auseinander schieben muss, um reinzukommen. Dann wieder zumachen. Kein Strom – keine Automatik. Man kann nur in bar bezahlen, die Verkäuferin kalkuliert die Beträge auf ihrem Taschenrechner.

„Wie lange haben Sie heute denn auf?“, frage ich sie, während ich eine Flasche Olivenöl in meinen Rucksack stecke. Ich will später noch einmal zurück, um zwei Sechs-Liter-Flaschen Trinkwasser zu kaufen. „Solange der Akku reicht“, sagt die Dame. Es ist kurz nach sechs. Für eine Stunde reicht es auf jeden Fall. Bis neun, wenn der Laden normalerweise schließt, wohl nicht. Dann können die Verkäuferinnen halt früher nach Hause. Ansonsten läuft der Notbetrieb einwandfrei. Es dauert ja nicht mehr lange. Es sind nicht mal 100 Tage bis zum Frühling.

Lemberg, den 3. Dezember, nachmittags

Die kleinen Quadrate in verschiedenen Farben sehen wie ein Tetris-Spiel aus. Oder wie ein auf einer zweidimensionalen Oberfläche ausgebreiteter Zauberwürfel. Auf manch einer Website sind es keine Quadrate, sondern langgezogene Rechtecke, als hätte eine unsichtbare Hand – oder die Tatze von Kater Tom auf der Jagd nach Jerry – die Projektion in eine Richtung gedehnt.

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Es gibt grüne, orangefarbene und weiße Quadrate. Die Anordnung der Farben folgt einem bestimmten Muster. Also könnte man sie auch für einen Intelligenztest verwenden. Es wäre eine Standardaufgabe: Ergänzen Sie bitte die Vorlage… Und übrigens keine besonders schwierige. Es ist nämlich ein sehr einfaches Muster.

Nur ist es kein Computerspiel und kein IQ-Test. Es ist eine Tabelle für Stromabschaltungen, veröffentlicht auf der Webseite des regionalen Elektrizitätsversorgers und kopiert von vielen Online-Diensten. Je nach Geschmack des Webdesigners variieren die Farbtöne und die Zellenform, das Prinzip bleibt dasselbe. Das Leben im Hinterland folgt nun einem Vier-Stunden-Rhythmus.

Jeder Tag wird in sechs Abschnitte unterteilt, als würde man das chinesische Zeitmodell verwenden. Nur sind es hier – anders als bei den Chinesen – regelmäßige Abschnitte von jeweils vier Stunden, als wollte man die Schönheit der Mathematik unterstreichen. Ansonsten soll die Regelmäßigkeit symbolisch für Gerechtigkeit stehen.

Die Farbenwahl ist auch wichtig. Grün zum Beispiel war schon immer eine positive Farbe. Der 2011 verstorbene britisch-amerikanische Journalist und Autor Christopher Hitchens erinnert sich, wie seine Grundschullehrerin, eine bestimmte Mrs. Watts, deren Aufgabe es war, die Kinder über die Natur und die Heilige Schrift zu unterrichten, einmal sagte: „Gott hat alle Bäume und das Gras grün gemacht, das ist genau die Farbe, die für unsere Augen am erholsamsten ist. Stellt euch vor, die Vegetation wäre stattdessen lila oder orange, wie schrecklich wäre das.“ Als Gott später die Straßenampel schuf, entschied er sich bei Grün ebenfalls fürs Erholsame und Angenehme – nämlich fürs Fahren.

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Diesem Prinzip folgt auch der Versorger. Grün bedeutet Strom. Vier Stunden lang. Zwar kein Öko-Strom, aber immerhin. Inzwischen stammt jeder Strom aus sozusagen erneuerbaren Quellen. Zumindest dort, wo es gelingt, die von russischen Raketen zerstörten Transformatoren, Stromnetze und Kraftwerke wieder zu erneuern.

Auch bei Orange folgt der Versorger der Argumentation von Mrs. Watts. Es bedeutet: Nun gibt es vier Stunden lang keinen Strom. Das heißt in der Regel: Kein Licht, keine Heizung und kein warmes Wasser. Beide Farben wiederholen sich zweimal pro Tag, also hat man mindestens acht Stunden Strom und acht Stunden keinen. Einmal irgendwann in der Nacht und einmal tagsüber. Oder am frühen Morgen und abends. Das kann sich je nach dem Wochentag unterscheiden. Wie bei Wanderplaneten ist es beim Strom auch ein Zyklus. Das macht die Sache etwas komplizierter, ist aber trotzdem gut für die Planung. Wenn man weiß, dass es zwischen 17 und 21 Uhr keinen Strom geben soll, dann springt man um 16:59 nicht unter die Dusche. Wenn es denn so genau wäre.

So genau ist es aber nicht. Vor allem, weil es noch eine dritte Farbe gibt: weiß. Auch zweimal am Tag. Als Farbe der Unschuld. Vielleicht aber nur, weil Weiß so gut mit Grün und Orange kontrastiert. Oder weil es ansonsten zu viel Transparenz gäbe. Es bedeutet: Notfalls gibt auch da keinen Strom. Was bei vielen Haushalten tatsächlich passiert. Zusammen mit Orange macht es sechzehn Stunden. Irgendwie hat man den Eindruck, dass die Stromerzeugung in diesen Zeiten der Wahrscheinlichkeitsrechnung von Ludwig Boltzmann folgt, obwohl sie eigentlich nur für Thermodynamik gelten sollte.

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Quelle: AFP

Weiter unten kann man auf der Webseite des Versorgers eine Liste mit Straßen und Häusernummern sehen, die im Moment ohne Strom sind. Es ist eine lange Liste. Eine sehr lange sogar. Am Nachmittag waren es 549 Straßen. Abends sind es bereits 651, also etwa jede zweite Straße von insgesamt knapp über 1300, die Lemberg zählt. Viele Straßennamen in dieser Liste waren mir bisher nicht wirklich bekannt. Man kann die Topografie der Stadt auch auf diese Weise studieren.

Von jeher ist die galizische Metropole, die einen Löwen in ihrem Wappen trägt, für Löwenproduktion aller Art bekannt. Die Löwenfiguren trifft man hier überall, vor allem aber an Häuserfassaden. Steinerne Löwen, gipserne Löwen. Freilaufende Löwen, freistehende Löwen. Löwen mit Flügeln, Löwen mit Hörnern. Es heißt, es seien insgesamt rund 4000, Souvenirlöwen nicht mitgerechnet. Somit gäbe es also in Lemberg etwa dreimal so viele Löwen wie Straßen. Gut, dass die Löwen keinen Strom brauchen.

Lemberg, den 28. November, abends

Taras, der Cousin eines alten Freundes von mir, hat sich schon immer für Navigation begeistert. Bereits als Teenager faszinierten ihn detaillierte Landkarten mit genauen topografischen Bezeichnungen. Es war so aufregend, sich bei den Pfadfindern an der Karte zu orientieren und den richtigen Weg zu finden! Wahrscheinlich hat er sich deswegen zum Geografiestudium entschlossen. Als er von der Idee hörte, ein altes Kosakenboot nachzubauen, war er sofort dabei.

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Bei ihren Militärexpeditionen benutzten ukrainische Kosaken ziemlich einfache Schiffe. Deren Rumpf schnitten sie aus einem einzigen Baumstamm, in der Regel aus Weide oder Linde. Die Bordwände erhöhte man mithilfe von Planken. Ein typischer kielloser Einbaum, bei den Kosaken als Tschaika bekannt, war etwa 20 Meter lang, wurde mit bis zu 15 Doppelrudern bestückt, dazu noch mit einem oder zwei Steuerrudern, manchmal auch mit einem abnehmbaren Mast und einem einfachen Vierecksegel. Das Boot konnte bis zu 70 Mann aufnehmen und führte als Bewaffnung einige leichte Falkonetten mit, das sind kleinkalibrige Geschütze.

Auch wenn die Tschaikas für ihre Zeit ein ziemlich archaischer Bootstyp waren und gegen moderne Kriegsschiffe bei einer Seeschlacht keine Chancen hatten, setzten Kosaken diese schnellen Gefährte in kleinen Flottillen für Überraschungsangriffe auf unbefestigte Siedlungen entlang der Küste oder auf feindliche Handelsschiffe ein. Es war eine klassische Piratentaktik im Zeitalter der europäischen Seeräuber.

Vor allem am Ende des 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bereiteten die Kosaken-Überfälle dem Reich der Osmanen, die ansonsten das Schwarze Meer kontrollierten, großes Kopfzerbrechen. In den ukrainischen Dumy, den epischen, oft heroischen gesungenen Dichtungen, die wohl im 16. Jahrhundert entstanden sind, werden die Kosaken und ihre Militärexpeditionen gepriesen. Dort heißt es, dass diese Haudegen sogar bis nach Istanbul vorgedrungen sind. So weit wohl doch nicht, allerdings hat bis dahin laut alten Chroniken nicht wirklich viel gefehlt. Erst nach und nach konnten die Türken die Kontrolle über die Schwarzmeerküste gewinnen; dafür mussten sie immerhin etliche Garnisonen im Dnipro-Delta stationieren.

Ukrainische Soldaten an der Front

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Quelle: Roman Chop/AP/dpa

Zwei solcher Tschaika-Boote hat eine Gruppe von Romantikern und Enthusiasten in den Nullerjahren nach alten Zeichnungen nachgebaut. Auf einem davon ist Taras mehrmals in See gestochen. Die Männer haben es sogar bis nach Batumi im südwestlichen Georgien geschafft, mit einer modernen Satellitennavigation als Absicherung.

Später widmete sich Taras dem Tourismus in den Karpaten, konzipierte Wanderrouten. Nach dem russischen Überfall im Februar meldete er sich freiwillig. Es ist nur logisch, dass ein studierter Geograf und Kartograf bei den Aufklärern landete. Den ukrainischen Offizieren brachte Taras Orientierungskenntnisse und Navigationskunde bei. Anfang November wurde er von einer russischen Granate in der Nähe von Cherson getötet. Es war wohl ein Direkttreffer, der Mann muss auf der Stelle tot gewesen sein. Seine Kameraden aus der kleinen Gruppe haben überlebt. Für seine Beerdigung wurden sie beurlaubt.

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Taras war 37, hinterließ keine Frau und keine Kinder. Geheiratet hat er nie. Man ehrte ihn mit einer Flagge der ukrainischen Kriegsmarine, obwohl er nie bei der Marine gedient hat. Aber die Teilnahme an den Tschaika-Expeditionen machte ihn automatisch zu einem Kosaken. Und die Kosaken, diese in der ukrainischen Tradition vielbesungenen freiheitsliebenden Krieger und Abenteurer, waren ja schließlich auch furchtlose Seemänner.

Lemberg, den 24. November, nachmittags

Reisen kann manchmal auch in Friedenszeiten kompliziert sein. Wenn man aber ein Ziel vor Augen hat, spielen die Beschwerlichkeiten keine Rolle. Die Tochter unserer Freunde war knapp 30 Stunden mit dem Bus von Hamburg nach Lemberg unterwegs, um bei einem Spiel der deutschen Nationalmannschaft dabei zu sein. Sie kam erschöpft und glücklich bei uns an.

Von der Fußball EM-2012, die in der Ukraine und Polen gemeinsam ausgetragen wurde, sind mir aber auch viele andere Episoden in Erinnerung geblieben. Zum Beispiel die Wucherpreise in vielen Hotels und einfache Ukrainerinnen und Ukrainer, die fremde Menschen kostenlos aufgenommen haben. Ein Skype-Gespräch zwischen Roman, einem jungen Mann aus Lemberg, und einem Deutschen aus Weiß-nicht-mehr, den er für paar Tage zu sich nach Hause eingeladen hatte. Freiwillige Helfer, die in blauen T-Shirts mit einem gelben Smiley und der Aufschrift „Friendly Ukraine“, „Rooms4free“ und „I Can Help U“ herumliefen. Die Aktion „Rettet die Schweden“ in Kiew, als die schwedischen Fans, deren Lager auf einer Insel mitten in Dnipro lag, nach einem Sturzregen fast überschwemmt worden war. Die Naturmenschen aus Skandinavien wollten die EM unbedingt mitten in der freien Natur verbringen. Die Natur hatte beschlossen, ihnen einen Streich zu spielen.

Ich erinnere mich auch an die englischen Fans, die sich vor dem Spiel mit teurem EM-Bier vollgetankt hatten. Als die Menge eine deutsche Fernsehkamera erblickte, stimmte sie sofort ein nettes Liedchen an. „Nobody hates the Germans more than we do“, tönte es plötzlich in aller Freundschaft aus Dutzenden beschwipster Kehlen. Einiges musste doch in Margaret Thatchers Sozialpolitik schiefgelaufen sein, schoss mir damals durch den Kopf.

Und dann war da noch das Pressezentrum in Kiew. Eine Riesenhalle, zu der man vom Stadion ziemlich weit laufen musste. Dort hatte man für Journalisten schöne Arbeitsplätze eingerichtet. An den Wänden hingen große Flachbildschirme, auf denen die Spiele live übertragen wurden. An langen Tischreihen konnte man bequem sitzen und die Laptops aufladen. Am Infostand bekam man das Passwort für kostenloses WLAN. Es gab nur ein Problem. Die Internet-Verbindung funktionierte nicht. Das Netz war total überlastet. Man war auf einen solchen Andrang nicht vorbereitet. Das Problem konnte erst nach einigen Tagen gelöst werden.

Etwas Ähnliches passiert heute in vielen ukrainischen Städten wieder. Wenn der Strom ausfällt, fangen alle an zu telefonieren und im mobilen Internet zu surfen. Das ist menschlich und verständlich – man will wissen, was passiert ist, wie es den Liebsten und Angehörigen geht und wie schwer die Folgen des neuen russischen Raketenangriffs sind. Die Konsequenz davon ist allerdings, dass die Mobilfunknetze zusammenbrechen. Niemand kommt durch. Man versucht es wieder. Und scheitert erneut. Bis man irgendwann an Samuel Beckett denkt.

Kiew im Dunkeln: Stromausfälle gehören in der Ukraine nach den russischen Angriffen zum Alltag

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Quelle: dpa/Andrew Kravchenko

Inzwischen statten die Mobilfunkbetreiber ihre Basisstationen nicht nur mit Akkus, sondern auch mit Generatoren für die Notstromversorgung aus, sodass diese nun auch bei längeren Stromausfällen weiter laufen. Gegen die Überlastung ihrer Netze sind die Anbieter aber im Moment hilflos. Sie werden sich ganz bestimmt etwas einfallen lassen. Jetzt können sie nur bitten, mit Surfen und Telefonieren sparsam umzugehen.

Nach zahlreichen gegenseitigen Versuchen konnte mich mein Freund Olexandr erst heute Nachmittag erreichen. Wir fassen uns kurz. Nach dem gestrigen Raketenangriff sitzt er in seiner Kiewer Wohnung immer noch ohne Strom, Heizung und Wasser. Mobilfunk und Internet gibt es nur in der Unterführung einer U-Bahn-Station in der Nähe. Wir sind uns schnell einig, dass der neue Angriff konsequent war. Das Europarlament hat ja Russland am Mittwoch als Terrorstaat eingestuft. Offenbar hat man dies in Moskau als eine Art Adelsprädikat verstanden, das man sofort bestätigen wollte. Damit auch die letzten Zweifler keine Zweifel mehr haben.

Lemberg, den 19. November, abends

Eigentlich haben die Meteorologen in diesem Jahr einen milden Winter vorhergesagt. Vielleicht kommt er auch. Wenn man heute aus dem Fenster schaut, sieht es eher nicht danach aus. In der ersten Novemberhälfte war es noch ziemlich warm und sonnig, aber kurz danach fiel plötzlich der erste Schnee. Seit drei Tagen sind in Lemberg die geparkten Autos unter einer dicken Schneedecke vergraben. Der weiße Teppich auf den Dächern verdeckt die sonst wilde Kakofonie der Farben, dessen Spektrum fast einem Regenbogen gleicht und sich vom rostigen Rot bis zum grellen Blau erstreckt. Auf den Wiesen liefern sich Teenager große Schneeballschlachten. In den Parks fahren die Kinder mit ihren Schlitten die Hänge hinunter. Ein Familienfoto vor dieser Schneekulisse würde in jedes Bilderbuch passen. Vielleicht wird sogar wie jedes Jahr zum Advent die Eisbahn auf dem Marktplatz installiert. Eine durch und durch romantische Winteridylle.

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Wenn da nicht die Stromausfälle wären. Denn der Wintereinbruch kam gleich nach dem russischen Raketenangriff. Nun versinken manche Stadtteile Lembergs für mehrere Stunden im Dunkel. Eine Bekannte von uns saß vor zwei Tagen fast acht Stunden ohne Strom, am nächsten Tag immerhin rund vier. Die Fernheizung fiel aus, und es gab kein warmes Wasser. Der Straßenbahnverkehr in ihrem Stadtteil war lahmgelegt worden, die Ampeln waren tot. Nur der Mobilfunk und das Internet funktionierten – im Unterschied zu dem Tag, an dem die Raketen einschlugen.

In Friedenszeiten hätte eine verkehrsintensive mehrspurige Kreuzung ohne Ampel ganz bestimmt nicht funktioniert. Im Krieg sind die Autofahrer aber wesentlich rücksichtsvoller, als verfügten ihre Vehikel über eine Kriegsmodus-Taste. Also läuft der Verkehr, ohne im Chaos der unendlichen Staus zu versinken.

Nicht alle Haushalte sind gleichermaßen betroffen. In manchen Wohnungen wird der Strom kaum abgeschaltet, in anderen muss man manchmal bis zu dreimal täglich mehrere Stunden in der Kälte ausharren. Das klingt nicht unbedingt nach Gerechtigkeit. Sogar der Oberbürgermeister sah sich verpflichtet, den Bürgerinnen und Bürgern die Situation zu erklären: Manche Haushalte hätten schlicht und einfach Glück, wenn sie zum Beispiel an derselben Leitung mit einem Krankenhaus hängen. Da sind die Stromausfälle eher unwahrscheinlich.

Allerdings ist man in Lemberg im Vergleich zu den anderen Städten in einer ziemlich komfortablen Situation. Eine Bekannte meiner Frau aus Odessa berichtete, dass dort zuletzt viele Haushalte lediglich eine Stunde pro Tag Strom hatten. Und im neulich befreiten Cherson bemüht man sich immer noch um die Wiederherstellung der Stromversorgung.

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Quelle: AFP/SERGEI SUPINSKY

In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre, als es mit der Wirtschaft bergab ging, gab es im ganzen Land permanent Stromausfälle. Die ältere Generation kann sich daran noch erinnern. Wir haben es überlebt. Diesmal versucht Russland, durch den Terror gegen die Zivilbevölkerung seine Niederlagen auf dem Schlachtfeld wettzumachen. Die Strategie wird nicht aufgehen. Wir werden es überleben. Russland versinkt damit nur immer tiefer im Sumpf seiner Verbrechen.

Übrigens hat der Schnee nicht nur für Kinder einen Vorteil – wenn überall Schnee liegt, sieht man im Dunkel besser. Vor allem beim Mondlicht.

Lemberg, den 16. November, nachmittags

Mein Freund Olexandr pendelt seit Jahren zwischen Lemberg und Kiew. Aufgewachsen ist er in einer engen, mit Büchern vollgestellten Dreizimmerwohnung zusammen mit Eltern und Oma, dem Onkel und seiner jüngeren Schwester. Die Oma hat bis zu ihrem Tod in der Küche geschlafen, der Onkel und die Eltern hatten jeweils ein eigenes Zimmer, Olexandr teilte das letzte verbliebene Zimmer mit seiner Schwester. Irgendwann hatte er es satt und zog nach dem Studium nach Kiew. Das Jobangebot war attraktiv, die Mietpreise in der Hauptstadt recht hoch, sodass es für ihn finanziell am Anfang eher ein Verlustgeschäft war. Aber der Wunsch, einer überschwänglichen elterlichen Bevormundung zu entkommen, gab den Ausschlag.

Für die Lemberger, die einen Job in der Hauptstadt gefunden haben, ist es eine recht typische Geschichte. Am Anfang fährt man noch an fast jedem Wochenende zurück, man will vor allem die Freunde treffen. Die ukrainischen Züge sind billig, aber zuverlässig. Für die Rückreise stopfen die Eltern die Taschen mit Proviant voll, damit ihr Sohn oder ihre Tochter im Hauptstadtdschungel nicht verhungert. Mit der Zeit pendelt man immer seltener. Die alten Freunde führen ihr eigenes Leben, gründen Familien, ziehen weg. Einige landen ebenfalls in Kiew, andere im Ausland. Die Verbindungen zu ihrem Elternhaus kappen die Pendler nie, mit der Zeit werden die Besuche in der Heimatstadt aber immer seltener. Bis man irgendwann nur noch ein paar Mal im Jahr nach Lemberg kommt.

Allmählich stieg Olexandr in seiner Firma, die mit Handelsflächen und Büroräumen in großen Einkaufszentren handelt, auf, ist aber seiner kleinen Kiewer Mietwohnung in einem Plattenbau in der Nähe einer U-Bahn-Station treu geblieben. Ein Zimmer hat für ihn schon immer gereicht, das Geld investierte er vor allem in Reisen.

Die verrückteste Reise absolvierte er am 24. Februar. Am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine schaffte es Olexandr irgendwie, in einen total überfüllten Zug einzuspringen. Verbrachte einige Wochen in der Wohnung seiner Eltern in Lemberg. Kehrte bald wieder nach Kiew zurück. Sein Vermieter kam ihm entgegen und berechnete für die Zeit seiner Abwesenheit nur die Nebenkosten. Im friedlichen Leben wäre eine solche Solidarität zwischen Mieter und Vermieter undenkbar gewesen.

Im Sommer kam Olexandr wieder für wenige Wochen nach Lemberg, um in Ruhe an seiner Doktorarbeit zu basteln, hielt aber in der Stadt nicht lange aus. Er hatte hier keine Ruhe. Inzwischen schien das Leben in Kiew schon fast normal weiterzulaufen. Bis zu den Raketenangriffen vom 10. Oktober.

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Seitdem gibt es in der Hauptstadt immer wieder Stromausfälle. Planmäßig. Manchmal kommen außerplanmäßige dazu. Bei den ersteren informiert der Versorger auf seiner Webseite, wann unter einer bestimmten Adresse keinen Strom geben wird. Normalerweise passiert dies dreimal am Tag für jeweils vier Stunden – morgens, abends und nachts. Je nach Stadtbezirk verschieben sich die Zeiten, das Prinzip bleibt aber immer dasselbe.

Olexandr hat Glück – in seiner Kiewer Wohnung gibt es keine Stromausfälle. Wahrscheinlich hängt das Haus an einer wichtigen Leitung, genauer weiß man es nicht. Aber selbst wenn man sich über das Licht in den eigenen vier Wänden freuen kann, bleiben die Probleme. Das Mobilfunknetz und das Internet fallen mit Verzögerung aus. Die Anbieter betreiben zwar ihre Basisstationen und Antennen weiterhin mithilfe von Akkus, aber diese reichen nur für etwa eine Dreiviertelstunde aus; wegen permanenter Stromausfälle können sie zudem nicht voll aufgeladen werden. Das Home-Office ist unter diesen Bedingungen nicht ganz einfach. Wenn du gerade online bist, kann der Kunde in einem anderen Stadtteil im Dunkel sitzen.

Autoverkehr im dunklen Kiew nach den Raketenangriffen vom 11. November

Autoverkehr im dunklen Kiew nach den Raketenangriffen vom 11. November
Quelle: AP/Andrew Kravchenko

So überlegte sich Olexandr, ob er vielleicht doch nicht vorübergehend wieder nach Lemberg ziehen soll. Hier war nämlich die Stromversorgung auch nach dem Angriff im Oktober ziemlich stabil. Bis gestern. Da gab es in der Stadt nach dem massivsten russischen Raketenangriff seit Kriegsbeginn mehr als neun Stunden keinen Strom, kein Mobilfunknetz, kein Internet, keine Fernheizung, kein warmes Wasser und teilweise kein Wasser überhaupt. In einigen Stadtteilen wurde erst heute gegen Mittag die Stromversorgung wiederhergestellt. Ob es nun auch in Lemberg regelmäßige Stromausfälle geben wird, ist im Moment noch unklar. Auf jeden Fall will Olexandr jetzt abwarten. Spätestens vor Weihnachten kommt er bestimmt nach Lemberg. Spätestens dann muss man mit einem neuen russischen Angriff rechnen.

Lemberg, den 11. November, abends

Als der bulgarische Künstler und Grafikdesigner Yanko Tsvetkov im Januar 2009 – ausgerechnet in der Zeit einer „Gaskrise“, als Russland zum ersten Mal den Gashahn für die Ukraine und für Europa zugedreht hatte, – seine satirische Landkarte Europas veröffentlichte, wusste er nicht, dass daraus ein großes Projekt über Vorurteile und Klischees unter dem Titel „Mapping Stereotypes“ entstehen würde. Überraschend ist es nicht – eine spontane Idee hat sich oft genug wie ein Virus verbreitet. Am Ende sind Dutzende von Landkarten und zwei Bücher entstanden, die den Autor weltweit berühmt gemacht haben. Die witzigen, oft beißend-ironischen Namen, die die Länder oder Gebiete auf diesen Karten tragen, spiegeln die Vorurteile wider, die man in einem Land gegenüber seinen Nachbarn und der Welt hat. Kurze, geistreiche Begleittexte hat Yanko Tsvetkov, der den Künstlernamen Alphadesigner trägt und sich als „Grafikkünstler aus Berufung und Schriftsteller aus Zufall“ bezeichnet, selbst verfasst.

Juri Durkots Tagebuch

In dem 2013 erschienenen „Atlas der Vorurteile“ gibt es viele Karten. Auf den meisten davon wird Europa dargestellt. „Europa aus der Sicht von …“ lautet die Überschrift. Dann erfahren wir, welche Klischeevorstellungen man von europäischen Nationen oder Regionen in einem bestimmten Land hat – ob in Deutschland, Frankreich, Spanien oder Italien. Eine Karte mit dem Titel „Europa aus der Sicht der Ukraine“ gibt es in diesem Band nicht. Aber die Ukraine kommt auf den Landkarten immer wieder vor – mal als „Gasdurchgangsland“ für die Deutschen, mal als Land der „Frauen mit geflochtenen Haaren“ für die Italiener.

In Griechenland sah man die Ukraine angeblich teils als Land der „orthodoxen Barbaren“ („von uns zivilisiert“), teils als Amazonien. Für die Briten war sie nur ein „eigenartiges Land“. Die Franzosen stellten sich nur die Frage, ob es „nicht einmal Russland war“. Und für die Schweizer begann China schon in der ukrainischen Steppe. Aus der Sicht von Russland schließlich bestand die Ukraine auf einer Karte aus dem Jahr 2010 aus zwei Teilen. Einer davon wird darauf als „Südliches Russland“ bezeichnet, dem anderen, immerhin größeren Teil diagnostizierte man dort eine „Persönlichkeitsstörung“.

Vier Jahre später, nach der Krim-Annektion hat Yanko Tsvetkov noch eine Karte gezeichnet. Diesmal war es „Europa aus der Sicht von Wladimir Putin“. Für den war die EU eine „Union der inzestuösen Homosexuellen“, das Schwarze Meer sah der russische Präsident nunmehr als „unser Mittelmeer“, und die Ukraine war für ihn wieder zweigeteilt – diesmal in das „Alte Neurussland“ und das „Land der Eurofaschisten“. Tsvetkov karikiert den russischen Krim-Anschluss, indem er die ukrainische Halbinsel durch das Schwarze Meer wandern und an dessen Ostküste andocken lässt. Als wäre dies eine Bestätigung für Alfred Wegeners Theorie des Kontinentaldrifts.

Kiewer posieren vor einer Riesenbriefmarke, die den Anschlag auf die Krim-Brücke zeigt

Kiewer posieren vor einer Riesenbriefmarke, die den Anschlag auf die Krim-Brücke zeigt
Quelle: SOPA Images/LightRocket via Getty Images

2014 konnte der im noch kommunistischen Bulgarien geborene und seit vielen Jahren in Spanien lebende Grafikkünstler noch lachen. 2022 war es damit vorbei. Am 25. Februar, einen Tag nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, postete Yanko Tsvetkov auf der Website von atlasofprejudice.com einige Sätze. Es lohnt sich, sie vollständig wiederzugeben:

„Mein ‚Atlas der Vorurteile‘ wurde 2009 geboren, als ein Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine eine Energiekrise in Osteuropa auslöste. Als Osteuropäer, der sich noch an den Kommunismus erinnert, kann ich mir nicht den bequemen Luxus leisten, den Westen für alles Tragische in der Welt verantwortlich zu machen. Bereits 2009 hielt ich Russland für eine bedrohliche Macht, die nur darauf wartete, ihre Zähne zu zeigen. Und die Zeit hat mir allmählich recht gegeben.

Aber so misstrauisch ich auch gegenüber Russlands Ambitionen war, ich konnte mir nicht vorstellen, dass Putin eines Tages eine massive Invasion in der Ukraine starten und sie mit Argumenten rechtfertigen würde, die nicht einmal auf einem Kindergartenspielplatz stichhaltig sind. Die meisten von ihnen klingen zu lächerlich, um eine ernsthafte Widerlegung zu verdienen, aber eines lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen. Der Vorwurf, der Westen fördere ‚Pseudowerte, die der menschlichen Natur widersprechen‘, riecht nach hemmungslosem Hass und Homophobie.

Ich sehe mir die Karte … an und kann nicht mehr lachen. Was einst ein Scherz war, ist jetzt ein absoluter Horror. Das Europa von 2009 ist endgültig tot und mit ihm mein Projekt.“

Es ist nicht das erste Mal, dass Künstler die Welt besser verstehen und die Gefahren eher sehen als Politiker. Leider wird es auch nicht das letzte Mal sein.

Lemberg, den 7. November, abends

Im 18. Jahrhundert war Weimar ein kleines Städtchen. Ein herzogliches Schloss, ein paar Kirchen, etwa 600 bis 700 Häuser und eine Stadtmauer. Wie Peter Watson in seinem Buch „Der deutsche Genius“ (2010) schreibt, gab es hier damals zwei Wirtshäuser – den „Erbprinz“ und den „Elefant“ –, drei Läden, die diesen Namen verdienten, und kaum mehr als 6.000 Einwohner, von denen ein Drittel Hofbeamte, Bürokraten, Soldaten und Pensionisten waren. Es gab keinen Handel, keinen Tourismus und keine Manufakturen.

Als Madame de Staël 1803 Weimar besuchte, fühlte es sich für sie weniger an wie eine kleine Stadt als vielmehr wie ein großes Schloss. Trotzdem ist der Einfluss dieses „großen Schlosses“ auf die deutsche Literatur, Kunst und Philosophie kaum zu überschätzen. Peter Watson vergleicht die Rolle Weimars gar mit der von Florenz für die italienische Renaissance.

Juri Durkots Tagebuch

Zur Zeit der Weimarer Klassik, als hier Wieland, Goethe, Herder und Schiller lebten, brauchte man wohl nur wenige Minuten, um die Stadt – durch dessen schmalen Gässchen laufend – zu durchqueren. Die Anreise muss dagegen viel mühsamer gewesen sein. Ich weiß nicht, wie lange man damals von Frankfurt – Goethes Geburtsstadt – nach Weimar brauchte. Wenn man berücksichtigt, dass eine Postkutsche – den holprigen Straßen geschuldet – kaum schneller als 6 bis 7 km/h unterwegs war, brauchte man für eine Strecke von knapp 300 Kilometer auf jeden Fall mehrere Tage.

Heute schafft man selbst im Krieg eine mehr als dreimal so lange Distanz wesentlich schneller. Man muss nur oft genug Pferde wechseln. Fünf verschiedene Züge, drei verschiedene Flüge, drei Taxen, zwanzig Stunden und eine schlaflose Nacht. So sieht heute eine Reise von Lemberg nach Weimar aus.

„Oha! Fast wie in Postkutschenzeiten“, schrieb mir eine alte Freundin, als sie erfuhr, dass die Rückreise fast 30 Stunden gedauert hatte, weil ich da noch eine Übernachtung in Polen einbauen musste. Aber es hat sich gelohnt. Ich meine, nicht nur die Übernachtung in Polen. Sondern vor allem der Besuch in Weimar.

Wenn ich heutzutage über eine Brücke gehe – und es gibt etliche davon in Weimar, – muss ich immer wieder an eine Brücke aus Papier denken, an dieses Zitat von Manès Sperber, das seit nunmehr sieben Jahren das Motto des jährlichen deutsch-ukrainischen Schriftstellertreffens ist, das in diesem Jahr in Weimar stattfand.

Die Atmosphäre war eine ganz besondere. Ukrainische Schriftstellerinnen, die vor dem Krieg ins Ausland geflüchtet sind, aber sich nicht als Exilantinnen verstehen. Ihre deutschen Kolleginnen und Kollegen, die den Krieg aus der Ferne beobachten und den Ukrainerinnen und Ukrainern aufmerksam zuhören wollen. Viele Texte voller Schmerz, oft traurig, manchmal selbstironisch, aber keine Spur von Verzweiflung. Die fantastischen Räume der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, zum Nachdenken und Selbstreflexion geradezu prädestiniert. Der Bücherkubus mit seinem Glasdach und bis in die luftigen Höhen vollgestellten Wänden. Und die Aschebücher: So heißt einerseits ein Zyklus des Künstlers Hannes Möller, der hier gerade zu sehen. Es gibt auch echte halbverbrannte Bücher, wie jenes, das uns der Bibliotheksdirektor Reinhard Laube zeigt.

Im Rokoko-Saal der Bibliothek riecht man sofort den Brandgeruch. Allerdings ist er dort nicht vom verheerenden Brand aus dem Jahr 2004 geblieben, dem zigtausende Bücher zum Opfer gefallen sind. Heute kommt der Geruch von den beschädigten Bänden, die in einem aufwendigen Verfahren restauriert werden.

Ein Buch verbrennt nie vollständig. „Es bleibt immer etwas übrig“, sagt Reinhard Laube.

Der Rokokosaal der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar

Der Rokokosaal der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar
Quelle: Martin Schutt/dpa/Archivbild

Ich stelle mir vor, wie das Feuer sich von außen nach innen durch ein Buch frisst, Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Satz für Satz, Seite für Seite. Die Ränder und der Umschlag sind längst verkohlt, im Inneren bleiben aber immer noch einzelne Passagen lesbar. Es sind vielleicht nur noch Gedankenfetzen, ohne Anfang und Ende, die das Feuer überlebt haben. Sie haben dem Brand widerstanden.

Es ist symbolisch, dass eine Diktatur ähnlich funktioniert. Sie frisst sich in jedes Individuum ein wie Feuer in ein Buch, sie nimmt dem Menschen seine Freiheit weg – Wort für Wort, Gedanken für Gedanken. Und trotzdem ist sie am Ende zum Scheitern verdammt, weil sie die persönlichen Freiräume – anders als in der Orwellschen Welt – nicht vollständig eliminieren kann. Es ist symbolisch, dass die Nazis Bücher verbrannt haben. Es hat ihnen nichts genützt. Nun verbrennen russische Besatzer in ihrem Symbol-Wahn ukrainische Bücher. Die Geschichte wiederholt sich: Es wird den Brandstiftern nichts nützen.

Lemberg, den 31. Oktober, abends

Seemänner haben schon immer wilde Geschichten erzählt. In den alten Zeiten handelten ihre Berichte von Seeungeheuern, die Schiffe verschlangen, von Fabelwesen, die auf den Bäumen lebten, oder von fernen Ländern und Inseln mit üppig wucherndem Grün und märchenhaftem Reichtum. Im 15. Jahrhundert, als die Europäer auf gefährlichen Seereisen die Welt zu entdecken begannen, glaubte man zunächst sogar, dass die Schiffe nicht unendlich in Richtung Süden steuern können, weil am Äquator das Wasser kochen würde. Man nahm die Berichte der Kapitäne und die Erzählungen der Matrosen in Hafenspelunken in der Regel für bare Münze.

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Im Laufe der Jahrhunderte wurde das Wissen über unseren Planeten immer exakter. So stellten irgendwann der letzte Landwinkel und die kleinste Insel kein Geheimnis mehr dar. Die Matrosen tischten zwar immer noch ihre Anekdoten auf, das Publikum wurde jedoch nunmehr viel skeptischer und anspruchsvoller. Man sehnte sich aber nach wie vor nach fantastischen fernen Welten. Man hat sie in den Abenteuerromanen entdeckt. Es schlug die Stunde der Schriftsteller.

Auch heute faszinieren uns meisterhaft erzählte Legenden und Geschichten. Als Kinder lesen wir begeistert die Storys über Jim Hawkins, Kapitän Nemo oder Moby Dick. Wahrscheinlich habe ich „Die Schatzinsel“ mindestens zehnmal gelesen, bis meine Eltern schließlich beschlossen, mich zum Augenarzt zu bringen.

Auch das Militär und die Kirche hatten oft das Faible für fantastische Historien. Im fünften Jahrhundert sollte sich der Hunnenkönig Attila auf inbrünstige Bitte Leo des Großen mit seinem Heer aus Italien zurückgezogen haben. Dabei hatten die Apostel Petrus und Paulus mit gezückten Schwertern den Worten des Papstes einen besonderen Nachdruck verliehen. Daraufhin hatte Attila keine Wahl und flüchtete in Panik.

Die russische Marine scheint ihre Vorliebe für wilde Geschichten jeglicher Art bis heute nicht aufgegeben zu haben. Oder anders formuliert – sie hat sie wiederentdeckt. Nun heißt es, dass die Ukraine ihren Drohnenangriff auf die russischen Schiffe in Sewastopol von einem mit Getreide beladenen Schiff verübt habe. Zu der Frage, ob die Drohnen auch mit Getreide beladen waren, hüllt sich das russische Marinekommando in Schweigen.

Abkommen auf Messers Schneide: Mit ukrainischem Weizen beladene Frachter am Bosporus

Abkommen auf Messers Schneide: Mit ukrainischem Weizen beladene Frachter am Bosporus
Quelle: REUTERS

Die Rolle der Bösewichte, die den Ukrainern diesmal geholfen haben, sollen nun die ewigen Feinde des großrussischen Putinismus übernehmen – Großbritannien oder die USA. Frei wählbar, je nach Geschmack. Auf jeden Fall ist es nun ein Grund für Moskau, vom sogenannten „Getreideabkommen“ zurückzutreten. Mit der Begründung, dass die russische Marine nicht mehr die Sicherheit der zivilen Schiffe, die Getreide aus ukrainischen Häfen transportieren, garantieren könne. Interessant. Ich dachte, dass die Schiffe der russischen Marine die einzigen sind, die diese Transporte bedrohen. Eine wilde Seemannsgeschichte muss glaubwürdiger sein. Die Romanciers des 19. Jahrhunderts konnten es viel besser.

Lemberg, den 27. Oktober, nachmittags

Rzeszów ist die erste polnische Großstadt hinter der ukrainischen Grenze. Rund 200.000 Einwohner, zwei Universitäten, ein Schloss, eine schöne Altstadt mit einem breiten Marktplatz, ein internationaler Flughafen und ein Bahnhof, der renoviert wird. Finanziert wird der Umbau der postkommunistischen Verkehrsinfrastruktur und des konstruktivistischen Bahnhofsgebäudes aus einem EU-Fonds, wie man einer Infotafel entnehmen kann.

Früher bin ich oft über Rzeszów gefahren. Die Straße nach Krakau führte über die Stadt, allerdings fuhr man nicht direkt durch das Zentrum, sondern etwas seitlich, um den historischen Stadtkern herum, als hätte man Angst, die etwas untergekommenen Fassaden der alten Häuser zu Gesicht zu bekommen. Als Entschädigung durfte man miterleben, wie der wirtschaftliche Aufschwung Südostpolen veränderte – jedes Jahr ein neues Einkaufszentrum, jedes Jahr ein neues Firmengelände und neue Werbeflächen, teils auf Polnisch, teils auf Ukrainisch. Der ukrainische Markt gewann für die Region zunehmend an Bedeutung. Schließlich wurde die Autobahn fertiggestellt.

Auch wenn die polnisch-deutschen Beziehungen zuletzt nicht spannungsfrei sind, haben die Polen inzwischen etwas von ihrem westlichen Nachbarn gelernt: Die Bauarbeiten am Bahnhof dauern bereits seit Monaten, vielleicht schafft man es mit dem Umbau irgendwann im nächsten Jahr. Vielleicht auch nicht. Niemand weiß es so genau. Es wird gehämmert, gezimmert, gebohrt, gegraben, aufgebrochen, einbetoniert, verlegt und wieder aufgebrochen. Eine typische Langzeitbaustelle eben.

Zu einer Baustelle gehören gesperrte Wege, Umleitungen, nicht funktionierende Rolltreppen, versteckte Aufzüge, verwinkelte Tunnelgänge und eine komplizierte Beschilderung. Kein Wunder, dass es nicht ganz einfach ist, mit dem schweren Koffer aus diesem Labyrinth herauszufinden. Zwei junge, kräftig gebaute Männer mit viel Gepäck fragen mich auf Englisch, ob sie hier richtig sind. „Es sieht so aus“, antworte ich etwas unsicher. Ich muss noch den Busbahnhof finden, er ist irgendwo in der Nähe, aber meine Navi-App spielt auf der Baustelle verrückt und berechnet die Route immer wieder neu. Wir kommen nur kurz ins Gespräch. Es stellt sich heraus, dass es Amerikaner sind. Als die beiden erfahren, dass ich aus der Ukraine komme, reagieren sie entzückt und sagen, sie seien auch gerade da gewesen. „Great!“, antworte ich nur kurz, da trennen sich unsere Wege. Was für Extremtouristen, schießt mir noch ein wirrer Gedanke durch den Kopf, dann trete ich schon aus dem Bahnhofsgebäude in den Regen hinaus. Ich muss die Baustelle weiträumig umlaufen.

Regen und Baustelle ist keine besonders einladende Kombination. Der Busbahnhof erscheint im Regen noch grauer und trauriger als er schon ist. Komisch, aber die meisten Busbahnhöfe, die ich in meinem Leben gesehen habe, waren grau und traurig. In Rzeszów sieht er auch noch ziemlich verlassen aus, auch wenn sich ein paar Menschen in einem kleinen Wartesaal herumdrücken. Die Dame am Schalter teilt mir etwas gelangweilt mit, dass der nächste Bus zum Flughafen in zweieinhalb Stunden abgeht. Wegen Umbau würden die Busse nun unregelmäßig fahren. Ich kalkuliere kurz, ob es noch reichen würde. Eventuell ja, aber knapp. Ob es eine andere Möglichkeit gebe, einen anderen Bus vielleicht, der nicht vom Busbahnhof fährt? Das wisse sie nicht genau, eventuell von da – sie zeigt mit der Hand in Richtung Regen. Ok, es reicht. Keine Experimente. Ich nehme ein Taxi.

Der Taxifahrer ist ein fülliger, gesprächiger Mann um die Sechzig. Bis wir aus dem Stau rauskommen und auf die Ausfallstraße in Richtung Flughafen abbiegen, hat er mir bereits seine halbe Lebensgeschichte erzählt. Besonders kompliziert ist sie nicht. Seit etwa 40 Jahren fährt er Taxi, also praktisch immer. Ich erfahre zudem, dass es derzeit in Rzeszów viele Ukrainerinnen gibt (das wusste ich) und auch viele Amerikaner (das war mir nicht wirklich bewusst).

Ein Boeing CH-47 Chinook Helicopter der US-Armee am Flughafen im polnischen Rzeszow.

Ein Boeing CH-47 Chinook Helicopter der US-Armee am Flughafen im polnischen Rzeszow.
Quelle: Christophe Gateau/dpa

Als wir uns dem Flughafen nähern, verstehe ich alles. Das Gelände ist weitgehend umzäunt, aber schon einige hundert Meter vom Terminal sieht man hinter einem hohen grünen Zaun die ersten in den Himmel gerichteten Rohre. Es sind die Patriot-Luftabwehrsysteme. Ganz viele davon. Es wäre besser, wenn einige in der Ukraine stehen würden. Aber zumindest weiß man, dass der hiesige Flughafen bestens geschützt wird. Es beruhigt. Auf dem Flugfeld steht eine große Transportmaschine. Aus dem Fenster des Terminals kann man sogar an ihrem Rumpf lesen: U.S. Air Force. Ich bin kein ausgewiesener Kenner von Militärtransportern, aber hier bin ich mir ziemlich sicher: Es ist eine C-17 Globemaster. Rzeszów ist seit Monaten ein wichtiger Hub für Lieferungen jeglicher Art in die Ukraine.

Erst jetzt dämmert mir, dass die zwei Männer, denen ich am Bahnhof in Rzeszów begegnet bin, keine Extremtouristen waren. Vielleicht waren es nur … Journalisten.

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